Geisterbahn
schöne, handgeschnitzte Jesus-Holzstatue um, die sie vor langer Zeit gekauft hatte, in ihren Tagen als Kellnerin. Die Statue fiel auf den Teppich, und obwohl sie nur dreißig Zentimeter groß und nicht allzuschwer war, fummelte Ellen Harper unbeholfen daran herum und hatte Schwierigkeiten, sie aufzuheben und dorthin zu stellen, wohin sie gehörte; ihre Finger fühlten sich an wie fette Würste und schienen sich nicht auf die richtige Weise krümmen zu wollen.
Sie fragte sich flüchtig, ob die Gutenachtgeschichte wirklich eine gute Idee war. Vielleicht war sie der Aufgabe nicht gewachsen. Aber dann dachte sie an Joeys süßes Gesicht und sein engelhaftes Lächeln und stieg die nicht ganz ungefährliche Treppe hinauf. Sie erreichte den Gang im ersten Stock, ohne zu fallen.
Sie betrat das Zimmer des Jungen und stellte fest, daß er bereits zu Bett gegangen war. Nur das winzige Nachtlicht brannte noch, eine kleine Glühbirne in der Wandsteckdose, geisterhaft und mondbleich.
Sie blieb auf der Schwelle stehen und lauschte. Normalerweise schnarchte er leise, wenn er schlief, doch im Augenblick lag er völlig ruhig da. Vielleicht war er noch nicht eingeschlafen.
Bei jedem Schritt schwankend, näherte sie sich vorsichtig dem Bett und schaute auf ihren Sohn hinab. In dem schwachen Licht konnte sie nicht viel erkennen.
Ellen gelangte zu dem Schluß, daß er wohl schon schlief, und wollte ihm nur noch einen Kuß auf die Stirn drücken. Sie bückte sich ...
Und ein grinsendes, leuchtendes, unmenschliches Gesicht sprang sie aus der Dunkelheit an und kreischte wie ein wütender Vogel.
Sie schrie auf und taumelte zurück. Sie stieß gegen die Kommode und prellte sich die Hüfte.
In ihrer Vorstellung sah sie ein kaleidoskopartiges Durcheinander dunkler, entsetzlicher Bilder: eine Korbwiege, die von dem Zorn ihres monströsen Inhalts geschüttelt wurde; riesige, grüne, animalische Augen, die vor Haß leuchteten; aufgeblähte, unförmige, schnüffelnde Nasenflügel; eine bleiche, gefleckte Zunge; lange und knochige Finger, die nach ihr griffen, während ein Blitz unruhig zuckte; Klauen, die an ihr zerrten ...
Die Nachttischlampe wurde eingeschaltet und vertrieb die fürchterlichen Erinnerungen.
Joey setzte sich im Bett auf. »Mama?« sagte er.
Ellen stützte sich auf die Kommode und atmete tief ein, dürstete nach der Luft, die sie ein paar Sekunden lang, die allerdings scheinbar ewig gedauert hatten, nicht in die Lunge hatte ziehen können. Das Ding in der Dunkelheit war nur Joey gewesen. Er trug eine Halloween-Maske, die mit phosphoreszierender Farbe bemalt war.
»Verdammt, was machst du?« fragte sie, stieß sich von der Kommode ab und trat ans Bett.
Er nahm die Maske schnell ab. Seine Augen waren riesig. »Mama, ich dachte, du wärest Amy.«
»Gib mir die«, sagte sie und riß ihm die Maske aus den Händen.
»Ich hatte einen Gummiwurm in Amys Nachttisch gelegt und dachte, sie wäre gekommen, um es mir heimzuzahlen«, sagte Joey, verzweifelt bemüht, sein Verhalten zu erklären.
»Wann wirst du endlich so vernünftig, daß du solchen Blödsinn unterläßt?« fragte Ellen, deren Herz noch immer rasend schnell schlug.
»Ich habe nicht gewußt, daß du es warst! Ich hab' es nicht gewußt!«
»Solche Streiche sind makaber«, sagte sie wütend. Ihr angenehmer Wodkaschleier war verdunstet. Ihre verträumte Trägheit hatte sich aufgelöst, war von einer alptraumhaften Spannung verdrängt worden. Ellen Harper war noch immer betrunken, doch ihr Zustand war jetzt nicht mehr heiter, sondern düster, nicht mehr glücklich, sondern verdrossen. »Makaber«, wiederholte sie und betrachtete die Halloween-Maske in ihrer Hand. »Makaber und pervers.«
Joey rutschte zurück, bis er das Kopfbrett berührte, und ergriff das Bettlaken mit beiden Händen, als wolle er es beiseite werfen, aus dem Bett springen und losrennen.
Noch immer von dem Schrecken zitternd, den ihr der Anblick dieses grinsenden, leuchtenden Gesichts mit den Fangzähnen versetzt hatte, das sie aus der Dunkelheit angesprungen hatte, schaute Ellen sich um und betrachtete die anderen unheimlichen Gegenstände im Zimmer des Jungen. Gespenstische Poster hingen an den Wänden: Boris Karloff als Frankensteins Ungeheuer; Bela Lugosi als Dracula; und ein weiteres Geschöpf aus einem Horrorfilm, das ihr unbekannt war. Auf der Kommode, dem Schreibtisch und den Bücherregalen standen Modelle von Ungeheuern - dreidimensionale Plastikfiguren, Bausätze, die Joey
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