Geisterbahn
Ungeheuer wie Victor werden würde. Dieser Fluch schlug vielleicht nur alle zwei Generationen zu - die Mutter, aber nicht das Kind, das Enkelkind, aber nicht der Urenkel. Er mochte willkürlich aussetzen und seinen häßlichen Kopf erheben, wenn man am wenigsten damit rechnete. Die moderne Medizin hatte eine Reihe von genetisch übertragenen Krankheiten und vererbbaren Mißbildungen identifiziert, die einige Generationen in einer Familie ausließen und bei anderen zuschlugen, Bocksprünge durch die Jahrzehnte machten.
Wenn sie nur sicher sein könnte, daß ihr erstes, monströ ses Baby das Produkt von Conrads verdorbenen, degenerierten Spermien war, wenn sie nur sicher sein könnte, daß ihre Chromosomen nicht geschädigt waren, könnte sie ihre Furcht für immer ablegen. Aber natürlich war es unmöglich, der Wahrheit auf den Grund zu gehen.
Manchmal dachte sie, das Leben sei zu schwierig und viel zu grausam, um der Mühe wert zu sein, gelebt zu werden.
Deshalb stand sie nun, am Abend des Tages, da sie von Amys Schwangerschaft erfahren hatte, in der Küche und kippte den Rest des Drinks herunter, den sie erst vor ein paar Minuten gemixt hatte. Sie schenkte sich schnell einen neuen ein. Sie hatte zwei Krücken: Schnaps und Religion.
Ohne diese beiden Hilfen hätte sie die letzten fünfundzwanzig Jahre nicht überstehen können.
Anfangs, im ersten Jahr, nachdem sie Conrad verlassen hatte, war die Religion ihr einziger Trost gewesen. Sie hatte als Kellnerin gearbeitet, nach einem holprigen Anfang auf eigenen Füßen gestanden und den größten Teil ihrer Freizeit in der Kirche verbracht. Sie hatte herausgefunden, daß das Beten ihre Nerven wie auch ihren Geist beruhigte, die Beichte tatsächlich gut für die Seele und eine sehr dünne Abendmahl-Hostie viel nahrhafter als ein Sechs-GangMenü war.
Am Ende des ersten Jahres, in dem sie sich allein durchgeschlagen hatte, und zwei Jahre nach ihrer Flucht aus dem Elternhaus war sie recht zufrieden mit sich und der Welt. Gewiß, in den meisten Nächten suchten sie immer noch heftige Alpträume heim. Sie rang noch immer mit ihrem Gewissen, versuchte, endlich darüber zu befinden, ob sie eine schreckliche Sünde begangen oder lediglich Gottes Auftrag erfüllt hatte, als sie Victor getötet hatte.
Aber wenigstens hatte sie jetzt als hart arbeitende Kellnerin zum erstenmal in ihrem Leben eine gewisse Selbstachtung und Unabhängigkeit erlangt. Sie hatte sich sogar selbstsicher genug gefühlt, einen kurzen Besuch zu Hause zu wagen und die Differenzen mit ihren Eltern so gut beizulegen, wie sie es vermochte.
Zu ihrer Überraschung erfuhr sie jedoch, daß ihre Eltern in der Zwischenzeit verstorben waren. Joseph Giavenetto, ihr Vater, hatte nur einen Monat, nachdem Ellen von zu Hause fortgelaufen war, einen schweren Schlaganfall erlitten. Gina, ihre Mutter, war keine sechs Monate später gestorben. So ging es manchmal - Mann und Frau starben kurz hintereinander, als wären sie nicht imstande, die Trennung zu verkraften.
Obwohl Ellen ihren Eltern nicht nahgestanden und Ginas übermäßige Strenge und Religiosität eine große Spannung und Verbitterung zwischen Mutter und Tochter geschaffen hatte, war Ellen wie am Boden zerstört gewesen, als sie von ihrem Tod erfahren hatte. Sie wurde von einem kalten, leeren Gefühl niedergedrückt und machte sich Vorwürfe, welchen Kummer sie ihren Eltern bereitet hatte. Einfach davonzulaufen, ihrer Mutter nur eine kurze und bündige, unfreundliche Nachricht zu hinterlassen, sich von ihrem Vater gar nicht zu verabschieden - durch dieses Verhalten hatte sie den Schlaganfall ihres Vaters vielleicht ausgelöst. Vielleicht urteilte sie zu streng über sich selbst, aber sie war nicht imstande, das Joch der Schuld abzuschütteln.
Fortan konnte die Religion ihr nicht mehr genügend Trost spenden, und sie verstärkte die Gnade Jesu mit der Gnade der Flasche. Sie trank zuviel. Nur ihre Familie wußte von ihrer Sucht. Die Kirchenfrauen, mit denen sie vier Tage in der Woche für wohltätige Zwecke arbeitete, wären schockiert gewesen, hätten sie herausgefunden, daß die stille, ernste, fleißige, fromme Ellen Harper des Nachts, in ihren eigenen vier Wänden, eine ganz andere Person war; nach Sonnenuntergang, hinter geschlossenen Türen, wurde aus der Heiligen eine Schnapsdrossel.
Sie verachtete sich für ihre sündhaft übertriebene Vorliebe für Wodka. Doch ohne Schnaps konnte sie nicht schlafen; er blockierte die Alpträume und schenkte ihr
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