Geisterbahn
vom Himmel gekommen, sondern aus der Hölle. Das Baby war nicht Gottes Strafe; es war ein großer Segen Satans. Gott hatte Conrad Straker den Rücken zugewandt, aber Satan hatte ihm als Willkommensgruß ein Baby geschickt.
Diese Argumentation wäre einem normalen Menschen vielleicht verworren vorgekommen, doch für Conrad, der verzweifelt Erlösung von seiner Schuld und Schande suchte, war sie nur allzu logisch. Wenn die Tore des Himmels ihm für immer verschlossen blieben, konnte er auch bereitwillig vor die Tore der Hölle treten und sein Schicksal ohne Bedauern akzeptieren. Er sehnte sich danach, irgendwo hinzugehören, ganz gleich, wohin, und sei es in die Hölle. Wenn der Gott des Lichts und der Schönheit ihm keine Absolution erteilte, würde er sie eben vom Gott der Dunkelheit und des Bösen bekommen.
Er las Dutzende von Büchern über satanische Religionen und fand schnell heraus, daß die Hölle nicht der Ort des Schwefels und der Leiden war, wie die Christen immer behaupteten. Die Hölle sei ein Ort, behaupteten die Teufelsanbeter, an denen Sünder für ihre Sünden belohnt wurden; sie war in jeder Hinsicht der Ort ihrer Träume. Und ihr größter Vorzug war - in der Hölle gab es so etwas wie Schuld nicht. In der Hölle gab es keine Schande.
Conrad hatte Satan kaum als seinen Erlöser akzeptiert, da wußte er auch schon, daß er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Die nächtlichen Träume von Feuer und Schmerz hörten nicht auf; doch er fand in seinem täglichen Leben mehr Frieden und Zufriedenheit, als er seit diesem schicksalhaften Heiligabend gekannt hatte; und zum erstenmal, seit er denken konnte, hatte sein Leben eine Bedeutung. Er war auf der Erde, um das Werk des Teufels zu tun, und wenn der Teufel ihm Selbstachtung anbieten konnte, war er bereit, lange und schwer für die Sache des Antichrists zu arbeiten.
Als seine Frau Victor tötete, wußte Conrad, daß sie Gottes Werk tat, und war wütend. Er hätte Ellen fast umgebracht. Aber ihm wurde klar, daß er für den Mord an ihr ins Gefängnis oder auf den elektrischen Stuhl kommen könnte, und dann würde er nicht die Rolle spielen können, die Satan ihm zugedacht hatte. Er hoffte, bei einer neuen Heirat würde Satan ihm vielleicht ein weiteres Zeichen schicken, ein anderes dämonisches Kind, das aufwuchs, um zur Geißel der Erde zu werden.
Conrad heiratete Zena, und nach einiger Zeit schenkte Zena ihm Gunther. Sie war die Maria des Teufels, wußte es jedoch nicht. Conrad hatte ihr nie die Wahrheit erzählt. Er hatte sich selbst als Josef des Antichrists gesehen, als Vater und Beschützer. Zena hatte das Kind einfach für einen Freak gehalten, und obwohl sie sich dabei nicht wohlgefühlt hatte, war sie Gunther mit jenem Gleichmut begegnet, mit dem Schausteller die Freaks immer behandelten.
Aber Gunther war nicht nur ein Freak.
Er war mehr als das. Viel mehr.
Er war heilig.
Er war die Wiederkunft. Die dunkle Parusie.
Als das Taxi jetzt auf das Kirmesgelände fuhr, betrachtete Conrad die ruhigen Vorstadthäuser und fragte sich, ob auch nur ein einziger Mensch dort draußen wußte, daß sie in den letzten Tagen von Gottes Welt lebten. Er fragte sich, ob auch nur ein einziger von ihnen spürte, daß Satans Kind auf Erden weilte und vor kurzem seine brutale Reife erlangt hatte.
Gunthers Schreckensherrschaft stand erst am Anfang.
Tausend Jahre der Dunkelheit würden sich auf die Erde senken.
O ja, Gunther war mehr als nur ein Freak.
Wäre er nur ein Freak, würde das heißen, daß Conrad sich in allem geirrt hatte, was er in den letzten fünfundzwanzig Jahren getan hatte. Es würde mehr als das bedeuten; es hieß, daß Conrad sich nicht nur geirrt hatte, sondern völlig verrückt war.
Also war Gunther mehr als ein Freak. Gunther war das legendäre dunkle Ungeheuer, das gen Bethlehem kroch.
Gunther war die Zerstörung der Welt.
Gunther war der Herold eines neuen dunklen Zeitalters.
Gunther war der Antichrist.
Er mußte es sein. Um Conrads willen mußte er es sein.
10
Für Joey kroch die Woche vor der Kirmes unerträglich langsam dahin. Er war darauf versessen, Schaustellergehilfe zu werden und Royal City für immer hinter sich zu lassen, aber er hatte den Eindruck, daß die Zeit für seine Flucht erst kommen würde, wenn seine Mutter ihn im Bett ermordet hatte.
Niemand konnte dazu beitragen, daß die Zeit schneller verstrich. Mama ging er natürlich aus dem Weg. Daddy war wie immer mit seiner Kanzlei und den Eisenbahnmodellen
Weitere Kostenlose Bücher