Geisterbahn
machen?«
»Warum schenken Sie mir die?«
»Ich hab's dir doch gesagt«, erwiderte der Fremde. »Du bist aus dem richtigen Holz geschnitzt. Wie die Schausteller sagen ... du hast es. Wann immer ich jemanden sehe, der es hat, jemand, der im Herzen Schausteller ist, gebe ich ihm zwei Freikarten. Du kannst jeden beliebigen Abend kommen und einen Freund
mitbringen. Oder vielleicht deinen Bruder. Hast du einen Bruder?«
»Nein«, sagte Joey. »Eine Schwester?«
»Ja.«
»Wie heißt sie?«
»Amy«
»Und wie heißt du?« > Joey.<< Joey und wie weiter?« >>Joey Alan Harper.< »Ich heiße Conrad. Ich muß die Rückseiten der Freikarten unterschreiben.« Aus
einer anderen Tasche holte er einen Kugelschreiber hervor und schrieb seinen Namen mit einer schwungvollen Handbewegung, die Joey bewunderte. Dann gab er ihm die Freikarten.
»Vielen Dank«, sagte Joey strahlend. »Das ist toll!«
»Viel Spaß«, sagte der Fremde grinsend. Er hatte sehr weiße Zähne. »Vielleicht bist du eines Tages auch Schausteller und gibst Leuten Freikarten, die so offensichtlich aus dem richtigen Holz geschnitzt sind.«
»Äh ... wie alt muß man dafür sein?« fragte Joey.
»Um Schausteller zu werden?«
»Ja.«
»Da kann man in jedem Alter anfangen.«
»Könnte auch schon ein zehnjähriger Junge mit dem Jahrmarkt reisen?«
»Auf jeden Fall, wenn er ein Waisenkind ist«, antwortete Conrad. »Oder wenn
seine Eltern sich einfach nicht um ihn kümmern. Aber wenn er eine Familie hat, der etwas an ihm liegt, würde sie ihn suchen und nach Hause holen.«
»Würden die ... würden die Schausteller den Jungen nicht verstecken?« fragte Joey. »Wenn es für ihn das Schlimmste auf der Welt wäre, nach Hause gebracht zu werden... würden sie selbst ihn dann nicht verstecken, wenn seine Eltern nach ihm suchen?«
»Oh, das könnte ich nicht«, sagte der Mann. »Das wäre gegen das Gesetz. Aber wenn sich niemand um ihn kümmerte, wenn niemand ihn haben wollte, würde der Jahrmarkt ihn aufnehmen. Das hat er schon immer getan und wird es immer tun. Was ist mit dir? Ich wette, deinen Eltern liegt sehr viel an dir.«
»Nicht sehr viel«, sagte Joey.
»Aber klar doch. Ich wette, sie kümmern sich um dich.
Was ist mit deiner Mutter?«
»Nein«, sagte Joey.
»Ach, ich wette, ihr liegt sehr viel an dir. Ich wette, sie ist wirklich stolz auf einen
so hübschen, intelligenten Jungen wie dich.« Joey errötete. »Hast du dein gutes Aussehen von deiner Mutter?« fragte Conrad. »Na ja ... schon ... ich sehe ihr ähnlicher als meinem Dad.«
»Diese dunklen Augen, dieses dunkle Haar?«
»Ja«, sagte Joey. »Wie bei Mama.«
»Weißt du«, sagte Conrad, »ich habe mal jemanden gekannt, der dir sehr ähnlich sah.«
»Wen?« fragte Joey.
»Eine sehr nette Dame.«
»Ich sehe nicht wie eine Dame aus!« sagte Joey.
»Nein, nein«, erwiderte Conrad schnell. »Natürlich nicht. Aber du hast ihre dunklen Augen und ihr dunkles Haar. Und da ist etwas in deinen Gesichtszügen ... Weißt du, es wäre gut möglich, daß sie jetzt einen Jungen in deinem Alter hat. Ja. Ja, das wäre sehr gut möglich. Wäre das nicht toll - wenn du der Sohn meiner Freundin wärest, die ich so lange nicht mehr gesehen habe?« Er beugte sich näher an Joey heran. Das Weiße seiner Augen hatte einen gelblichen Schimmer. Auf seinen Schultern lagen Kopfschuppen. An seinem Schnurrbart klebte ein Brotkrumen.
Seine Stimme wurde noch herzlicher als zuvor, als er sagte: »Wie heißt deine Mutter?«
Plötzlich sah Joey etwas in den Augen des Fremden, das ihm noch weniger gefiel als das, was er in denen des Albinos gesehen hatte. Er starrte in diese beiden kristallblauen Punkte und hatte den Eindruck, daß die Freundlichkeit des Mannes nur vorgetäuscht war. Wie bei der Fernsehsendung >Detektiv Rockford - Anruf genügt< - da konnte Jim Rockford, der Privatdetektiv, so charmant und freundlich sein, aber das war von ihm nur gespielt; er wollte auf diese Weise von einem Fremden wichtige Informationen bekommen, ohne daß der Fremde erfuhr, daß er ausgehorcht wurde. Plötzlich hatte Joey den Eindruck, daß dieser Bursche genau wie Jim Rockford sich nur so freundlich gab. In Wahrheit wollte er ihn, den Jungen, aushorchen.
Allerdings war Jim Rockford unter seiner falschen Freundlichkeit wirklich ein netter Kerl. Aber unter Conrads Lächeln steckte überhaupt kein netter Kerl. Tief in seinen blauen Augen war gar nichts Warmherziges oder Freundliches; da war nur ...
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