Geisterbahn
Dunkelheit.
»Joey?«
»Was?«
»Ich hab' dich gefragt, wie deine Mama heißt.«
»Leona«, log Joey, ohne genau zu wissen, warum er nicht die Wahrheit sagte. Er spürte nur, jetzt die Wahrheit zu sagen - das wäre das Schlimmste, was er je in seinem Leben tun konnte. Leona war Tommy Culps Mutter.
Conrad musterte ihn eindringlich.
Joey wollte den Blick abwenden, konnte es aber nicht.
»Leona?« fragte Conrad.
»Ja.«
»Na ja ... vielleicht hat meine Freundin ihren Namen geändert. Der, den die Eltern ihr einst gaben, hat ihr nie gefallen. Deine Mutter könnte es trotzdem sein. Was meinst du, wie alt ist deine Mutter?«
»Neunundzwanzig«, sagte Joey schnell. Ihm war eingefallen, daß Tommy Culps Mutter vor kurzem ihren neunundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte, und - laut Tommy - hatten sich auf ihrer Party alle Gäste betrunken.
»Neunundzwanzig?« fragte Conrad. »Bist du sicher?«
»Das weiß ich genau«, erwiderte Joey, »weil Mamas Geburtstag einen Tag vor dem meiner Schwester liegt und wir deshalb jedes Jahr immer zwei Feiern dicht hintereinander haben. In diesem Jahr wurde meine Schwester acht und meine Mutter neunundzwanzig.« Es überraschte ihn, daß er so glatt und einfach lügen konnte. Normalerweise war er ein lausiger Lügner; er konnte niemanden täuschen.
Aber jetzt war es etwas anderes. Jetzt war es fast so, als würde eine ältere und klügere Person durch ihn sprechen.
Er wußte nicht, warum er plötzlich davon überzeugt war, daß er diesen Mann belügen mußte. Mama konnte nicht die Frau sein, die Conrad suchte. Mama hätte nie Freundschaft mit einem Schausteller geschlossen; sie hielt diese Leute alle für schmutzig und verdorben. Und doch belog Joey den Mann, und er hatte das Gefühl, daß jemand anders seine Zunge führte, jemand, der auf ihn achtgab, jemand wie ... Gott. Das war natürlich ein dummer Gedanke. Um Gott zu gefallen, mußte man stets die Wahrheit sagen. Warum sollte Gott eingreifen und einen dazu bringen, einfach zu lügen?
Die blauen Augen des Schaustellers wurden weicher, und die Anspannung wich aus seiner Stimme, als Joey sagte, seine Mutter sei neunundzwanzig. »Na ja«, sagte der Schausteller, »dann kann deine Mutter wohl schlecht meine alte Freundin sein. Die Frau, an die ich denke, müßte so um die fünfundvierzig sein.«
Sie sahen einander einen Augenblick lang an, der Junge, der dort stand, und der Mann, der vor ihm kniete, und schließlich sagte Joey: »Tja ... vielen Dank für die Freikarten.«
»Sicher doch«, sagte der Mann und erhob sich. Offensichtlich war er nicht mehr im geringsten an dem Jungen interessiert. »Viel Spaß, mein Sohn.« Er drehte sich um und schlurfte zur Geisterbahn zurück.
Joey schritt über den Mittelgang, um die Aufbauarbeiten beim Octopus zu beobachten.
Später kam ihm die Begegnung mit dem blauäugigen Schausteller fast wie ein Traum vor. Lediglich die beiden rosa Freikarten - auf deren Rückseiten unter den gedruckten Worten >Diese Freikarten wurden ausgegeben von<
ordentlich der Name Conrad Straker geschrieben stand bewirkten, daß sich Joey den Zwischenfall als ein Ereignis der Wirklichkeit im Kopf behielt. Er wußte noch, daß er Angst vor dem Fremden gehabt und ihn belogen hatte, konnte aber nicht mehr das Gefühl einfangen, das ihn davon überzeugt hatte, es sei unbedingt nötig, ihn anzulügen; und deshalb schämte er sich ein wenig, nicht die Wahrheit gesagt zu haben.
An diesem Abend holte Buzz Klemmet seinen Schwarm um halb sieben am Haus der Harpers ab. Er war ein gutaussehender Bursche mit markanten Gesichtszügen, einem anmaßenden Benehmen und dem sorgsam eingeübten Image eines harten Burschen. Ellen Harper hatte ihn kurz kennengelernt, am zweiten Abend, an dem er Amy abholte, und er hatte ihr überhaupt nicht gefallen. Obwohl sie sich an ihre Aussage hielt, es interessiere sie nicht mehr, was aus Amy würde, und kein Wort für oder gegen Buzz gesagt hatte, konnte ihre Tochter sehr wohl den Abscheu in den Augen ihrer Mutter lesen. Heute abend blieb Mama in der Küche und ließ sich nicht mal dazu herab, herauszukommen und Buzz wütend anzufunkeln.
Richie und Liz saßen bereits auf dem Rücksitz von Buzz' altem GTO-Kabrio. Das Dach war heruntergelassen, und kaum waren Buzz und Amy eingestiegen, als Richie auch schon sagte: »He, klapp das Verdeck hoch, damit wir auf dem Weg zum Kirmesgelände einen Joint rumreichen können, ohne gesehen zu werden.«
»Gutes altes Royal City, Ohio«, sagte Liz. »Noch
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