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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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zog ich in Erwägung, mich dem Egel anzunähern, um auf diese Art den Kontakt zu seiner Schwester aufrechterhalten zu können, aber dieser Gedanke war so überaus befremdlich, dass ich ihn sofort wieder verwarf – außerdem hätte mich Kuhle dafür verachtet.
Gut, ich sah Sabrina nicht nur auf dem Schulhof, sondern fünf, sechs Mal am Tag, während ich auf dem Badewannenrand saß und mit großer Hingabe und ihrem Bild vor Augen onanierte. – O r nanierte, wie wir es damals nannten.
    Der Nummer-eins-Hit in Deutschland zu dieser Zeit war »Angel of Mine« von Frank Duval.

9. Fahrerflucht
    Jens arbeitete im Zwei-Wochen-Turnus Schicht, auch an den Wochenenden, danach hatte er jeweils volle sieben Tage frei. Etwa ein Jahr nach dem Umzug, kurz vor Beginn meiner ersten großen Ferien in Berlin, trat auch Ute eine Arbeitsstelle an, in einer EdekaFiliale in der Stromstraße, nicht weit von zu Hause. Sie saß an der Kasse und tippte die Preise ein. Ich ging einmal mit Kuhle an der Filiale vorbei, wir standen ein Weilchen vor dem Schaufenster und beobachteten Ute. Großen Spaß schien ihr die Arbeit nicht zu machen, aber ihr Gesichtsausdruck ließ wie der von Jens selten verlässliche Rückschlüsse auf ihr Innenleben zu. »Spejbl und Hurvinek«, sagte Kuhle wieder, als er uns in der Schaufensterscheibe sah. Ich nickte, obwohl keiner von uns beiden Segelohren hatte, außerdem war die kleinere der Puppen aus der tschechischen Serie nicht dick. Inzwischen wusste ich, was Ostfernsehen war, obwohl es Jens nicht mochte, wenn wir uns das ansahen.
    Durch Utes Job wurden wir Schlüsselkinder. Mark trug seines um den Hals, Frank und ich hatten unsere Schlüsselbunde in den Hosentaschen, wo man sie mit der Hand klimpern lassen konnte; wir waren zu alt, zu erwachsen für Halsbänder, außerdem trugen wir dort schon unsere Monatskarten, allerdings nicht mehr lange. Aber nicht nur das hatte sich geändert. Zum Mittagessen gab es jetzt belegte Brote, die Ute morgens zubereitete und die im Kühlschrank auf uns warteten. Die warmen Mahlzeiten fanden meistens erst abends statt. Gemeinsame Mahlzeiten zu fünft gab es allerdings kaum noch.
    Während ich mich immer wohler in Berlin fühlte, zumal ich jetzt die Möglichkeit hatte, an den Nachmittagen durch die Stadt zu streunen – schließlich waren zwei Bus-Linien und ein U-BahnNetzbereich mit meiner Monatskarte zu befahren –, und ich mich, wann immer ich wollte, meinem fröhlichen Hochfrequenzhobby widmen konnte, ohne dass Jens ins Bad kommen konnte, ging es den anderen in meiner Pflegefamilie weniger gut.
    Seit dem Umzug fehlte der Kleingarten, und im räumlich begrenzten Berlin gab es weit mehr Anwärter auf eine »Laube«, wie es hier genannt wurde, als freiwerdende Parzellen. Da das nächste mit dem Auto erreichbare Reiseziel im Bundesgebiet rund hundertachtzig Autokilometer westlich lag, gab es eine große Schieflage, was Angebot und Nachfrage anging. Jens kurvte Sonntage lang durch die Stadt, sprach bei Kleingärtnervereinen vor und ließ sich auf Wartelisten setzen, aber Aussicht auf Erfolg gab es kurzfristig keine. Das frustrierte ihn sichtlich, mehr noch, als es der Job in der Moabiter JVA tat, wo er offenbar niedriger in der Hierarchie stand als zuvor in Hannover. Er redete weiterhin nicht viel, sogar eher weniger, aber es war ihm überdeutlich anzumerken, dass ihm die Veränderungen zu schaffen machten. Er war unglücklich. Auf eine leise, auf Jens-Art, aber spürbar.
    Anfang der Achtziger war die Parkplatzsituation in Berlin noch eine andere. Man fuhr irgendwohin und stellte sein Auto ab, und damit hatte es sich. Die Alternative Liste, Vorgänger der Grünen in Berlin, war zwar im Frühjahr erstmals ins Abgeordnetenhaus eingezogen, aber die erste rot-grüne Koalition lag noch in weiter Ferne. Begriffe wie »Parkraumbewirtschaftung« und »Busspur« sollten erst noch erdacht werden.
    Deshalb parkte der BMW direkt vor der Tür. Wenn man unser Haus verließ, dessen schmucklose und irgendwie schmutzig wirkende Fassade derjenigen der Nachbarhäuser glich, befand sich nur wenige hundert Meter weiter links das Amtsgericht Tiergarten, ein beeindruckender Bau aus roten Ziegeln. Die JVA Moabit, Jens’ Arbeitsplatz, lag quasi direkt hinter dem Amtsgericht, nur eine Querstraße weiter, die »Alt-Moabit« hieß. Außerdem gab es eine Polizeidienststelle in unmittelbarer Nähe.
    »Wir leben hier praktisch in einer der sichersten Gegenden Berlins«, hatte Jens einmal behauptet, als wir einen

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