Geisterfahrer
Werbespruch »Fleisch ist ein Stück Lebenskraft«, mit dem später dem verstärkten Vegetarismus zu begegnen versucht wurde, hätte bei den Kuhlmanns erdacht worden sein können. Nur dass sie wahrscheinlich auf den Einschub »ein Stück« verzichtet hätten. Vermutlich hätte ihre Variante schlicht »Fleisch!« gelautet.
Die Wohnung war weitaus gemütlicher und wärmer als unsere, und es war ihr viel deutlicher anzusehen, dass Menschen darin lebten. Der erzwungene Umzug war der einzige Anlass gewesen, aus dem Jens und Ute gewisse Veränderungen vorgenommen hatten, seitdem hatte sich nichts mehr getan in unserer Wohnung. Bei den Kuhlmanns dagegen herrschte eine Art geordnetes Chaos, und es kam selten vor, dass ich Kuhle zweimal nacheinander besuchte, ohne dass sich etwas verändert hatte. Seine Mutter rückte Möbel, strich Wände, kaufte Krempel, den sie irgendwo hinstellte, während sie anderen aussortierte und in die Mülltonne warf.
Tatsächlich aber musste es den Kuhlmanns wirtschaftlich schlechter gehen als uns. Kuhles Vater war Bauarbeiter, zwar Polier, aber niemand, der Millionen nach Hause brachte, die Mutter Hausfrau. Jens und Ute arbeiteten beide, und ich wusste, dass meine Anwesenheit im Haus letztlich mehr einbrachte, als sie kostete. Trotzdem wirkte es, als wären die Kuhlmanns sehr viel reicher, auf eine Art, die ich damals noch nicht einzuordnen wusste und die mich nicht neidisch machte, sondern seltsam traurig, vor allem, wenn ich im Anschluss nach Hause gehen musste.
Manchmal saß Kuhles Oma im Wohnzimmer, wenn wir kamen. Die Eltern seines Vaters lebten nicht in Berlin, aber seine Oma mütterlicherseits wohnte nicht weit entfernt, weshalb sie oft zu Besuch erschien. Sie war eine ziemlich kleine, puppenhafte, weißgelockte Frau mit spärlichen Bewegungen, wodurch sie einen ziemlich krassen Gegensatz zur eigenen Tochter bildete, die wiederum viel von einem sehr beweglichen Stück Schwarzwälder Kirschtorte hatte, als Kopf die rotleuchtende Maraschinokirsche.
Oma Kuhlmann aß verhältnismäßig wenig – also in etwa so viel wie mein Pflegevater – und saß meist am Fenster in einem gepolsterten Stuhl, vor sich einen kleinen Tisch. Sie liebte Legosteine. Während wir noch knietief im Mittagsmahl steckten oder mit Mama Kuhlmann über die Schule sprachen, erklang ein Klicken und Klacken aus ihrer Ecke. Meistens baute sie Schlösser nach, aus dem Gedächtnis, von Versailles über Windsor Castle bis Neuschwanstein. Die fertigen Gebäude, die allerdings bestenfalls abstrakte Ähnlichkeit mit den Originalen hatten, zerlegte sie im Anschluss gleich wieder, während ein strahlendes Lächeln in ihrem glatten, erstaunlich faltenarmen Gesicht stand, und gleich darauf begann sie mit dem nächsten. »Fertig«, sagte sie kurz, wenn sie ein Gebäude beendet hatte, womit sie mich ein, zwei Mal ziemlich erschreckte, und machte sich sofort daran, die Steine Schicht für Schicht wieder abzutragen.
Mein Freund hatte ein eigenes Zimmer, das in etwa so klein war wie das von Frank, und sein Vater hatte auf halber Höhe des hellen Altbauraums ein Gestell aus wuchtigen Holzbohlen eingezogen, auf dem sich Kuhles Bett befand, eingerahmt von Büchertürmen. Wenn er die Leiter hinaufstieg, um ein Buch oder ein Spiel zu holen, ächzte die Konstruktion, aber Kuhle lächelte nur und sagte: »Keine Angst, was mein Vater baut, das hält bombenfest.«
Und das stimmte.
Unter dem Gestell stand sein Schreibtisch, außerdem befand sich dort eine kleine Sitzgruppe, deren größte Sitzgelegenheit, ein verschlissener Ohrensessel, eine tiefe Einbuchtung zeigte, praktisch eine Sitzgrube. »Siehst du«, hatte Kuhle gesagt und auf den Sessel gewiesen, als ich zum ersten Mal in seinem Zimmer gewesen war. »Die anderen Sitzgelegenheiten sind für Gäste«, hatte er grinsend hinzugefügt.
Bei Kuhle machten wir oft gemeinsam Hausaufgaben, vor allem, seit Jens damit aufgehört hatte, sich dafür zu interessieren, danach quatschten wir, oder wir stöberten durch die vielen Bücher, spielten Karten, Kuhles große Leidenschaft – von meiner ExNachhilfelehrerin Sabrina abgesehen, die er nicht aus den Augen ließ, sobald sie irgendwo auftauchte. Ich hatte mich in dieser Hinsicht mit meiner persönlichen Art der Bewältigung gut ab- und zurechtgefunden.
Alle meine männlichen Klassenkameraden gruppierten sich in den Pausen zu Skatrunden; Gameboys und Handys gab es noch nicht. Es machte Kuhle ein bisschen fassungslos, dass es ihm bisher noch nicht
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