Geisterfahrer
Spaziergang durch die wenig malerische Umgebung machten. »Gericht, Justizvollzugsanstalt, Polizei, alles in der Nähe«, sagte er, nicht ohne Stolz. Trotzdem, oder vielleicht sogar genau deshalb, plante er, seine Streifengänge kurzfristig wiederaufzunehmen.
Sein Stolz auf die vermeintliche Sicherheit der Gegend, die tatsächlich zu einer der kriminalitätsreichsten Ecken Berlins gehörte, hielt bis zu einem Morgen im Oktober 1981. Jens hatte frei, war aber mit uns Kindern aufgestanden. Wir waren gerade mit dem Frühstück fertig, und ich saß im Flur und schnürte meine Schuhe, als es klingelte. Eine Gegensprechanlage hatte das Haus nicht, und auch keinen Summerknopf, den man drücken konnte, um die Haustür, drei Stockwerke tiefer, zu öffnen. Frank hatte erst um neun Schulbeginn, also ging ich nach unten, weil ich sowieso losmusste. Vor der Tür standen zwei Polizeibeamte, und das waren tatsächlich die ersten Polizisten, mit denen ich seit jenem Abend bei Tante Ina Kontakt hatte. Inzwischen waren die Polizeiuniformen bundeseinheitlich dottergelb und grün. Das Blau damals hatte mir besser gefallen.
»Ja?«, fragte ich vorsichtig. Möglicherweise war notorische Wichserei sogar strafbar.
Der eine Polizist wies mit dem Daumen über seine Schulter hinter sich, wo direkt vor der Haustür Jens’ BMW parkte.
»Ist das der Wagen deines Vaters?«
Ich wollte eigentlich richtigstellen, dass Jens nicht mein Vater war, nickte aber stattdessen nur. Ich drehte mich um, ging ein paar Schritte in den Flur und rief nach oben: »Jens, es ist was mit dem Auto. Hier ist Polizei.«
Die Turmstraße war durch eine Mittelinsel geteilt, und direkt vor unserem Haus befand sich eine Aussparung, durch die man die Fahrtrichtung wechseln konnte. Ein LKW-Fahrer musste sich dabei verschätzt haben, jedenfalls war die komplette Fahrerseite des BMW aufgerissen, als hätte man sie mit einer gigantischen Kreissäge traktiert, beide Fensterscheiben waren herausgeplatzt. Vermutlich war das mitten in der Nacht geschehen, aber die Scherben auf der Straße waren erst jetzt bemerkt worden. In der Gegend standen viele beschädigte Autos am Straßenrand, doch keines davon sah so schlimm aus wie der BMW von Jens.
Er kam durch die Haustür und sah mich neben den Polizisten auf der Straße stehen. Erst zögerte er kurz, betrachtete sein Auto, dessen Beifahrerseite völlig intakt war, dann machte er zwei, drei Schritte. Es war noch nicht ganz hell, vermutlich sah er in diesem Moment, dass die Scheiben auf der Fahrerseite zerbröselt waren. Er hielt wieder inne, ließ die Schultern fast unmerklich nach vorne sacken, und dann kam er zu uns.
»Fahrerflucht«, sagte einer der beiden Polizisten, bevor Jens das volle Ausmaß der Katastrophe sehen konnte.
Er reagierte kaum. Er nahm eine Hand vor den Mund, seine Schultern sackten noch etwas mehr ab, und seine kleinen Augen wurden feucht. Jens weinte nicht, ich sah ihn überhaupt nur ein einziges Mal weinen, aber nicht an diesem Tag.
»Mein Auto«, sagte er, ganz leise. Er wiederholte es zwei, drei Mal. »Mein Auto.«
Dann drehte er sich um und ging ins Haus. Die Polizisten sahen sich kurz an, zuckten mit den Schultern und folgten ihm. Ich rannte los, zur Bushaltestelle, denn ich war bereits zu spät dran.
Als ich von der Schule zurückkam, befand sich der Wagen noch immer vor der Tür. Jens stand am Wohnzimmerfenster, das zur Straße ging, schwieg und ließ die Arme an den Seiten herunterbaumeln. Ich sagte »Hallo«, aber er reagierte nicht.
Der Täter wurde nicht gefunden, Jens brachte den Wagen zwar in eine Werkstatt, um ihn instand setzen zu lassen, was ziemlich viel Geld kostete, wie ich den Gesprächen entnehmen konnte, aber anschließend war es nicht mehr dasselbe. Er ließ das Auto verkommen. Ute fuhr ab und an damit in die Waschstraße, aber Jens füllte nur noch Benzin, Öl und Wischwasser nach. Er wurde noch verschwiegener, und er verlor für eine Weile jegliches Interesse daran, sich am Freitagabend Krimiserien anzuschauen. Außerdem hörte er auf, meine und Franks Hausaufgaben zu korrigieren, die wir am Nachmittag auf den Fernseher zu legen und nach dem Essen abzuholen hatten, um möglicherweise noch etwas nachzuarbeiten. Er tat es einfach nicht mehr, sie lagen stets unverändert und ohne seine in winziger Bleistiftschrift am Rand angebrachten Anmerkungen da.
Es wurde spürbar kälter in meiner Pflegefamilie. Jens und Ute schienen sich voneinander zu entfernen, Frank kämpfte mit Problemen in der
Weitere Kostenlose Bücher