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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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Schule, und bei all dem merkte keiner, was mit Mark geschah.
    Der Nummer-eins-Hit in Deutschland an dem Tag, an dem ein anonymer LKW-Fahrer straflos Jens’ BMW beschädigt hatte, war »Ja wenn wir alle Englein wären« und stammte von Fred Sonnenschein alias Frank Zander.

10. Lippenstift
    Wenn ich Kuhle zu Hause besuchte – es geschah immer häufiger – und dort seiner gebirgigen, vor fröhlicher Herzlichkeit überströmenden Mutter begegnete, neben der selbst der fette Kuhle wie der knapp hundertzwanzig Meter hohe Berliner Teufelsberg neben dem Mount Everest aussah, gewann ich einen Eindruck davon, was in meiner Pflegefamilie anders, sehr wahrscheinlich falsch lief.
    Zur Begrüßung wurde Kuhle umarmt und auf die Wange geküsst, ein lauter Schmatzer, der aber nichts von dieser vereinnahmend-angeberischen Küsserei hatte, mit der Franks und Marks Tanten und Onkel ihre Neffen begrüßten, bei ihren überaus seltenen Besuchen oder unseren noch selteneren Gegenbesuchen, bei denen ich eine Art geduldeter Zaungast war, nur deshalb mitgenommen wurde, weil es weniger aufwendig war, als einen Aufpasser für mich zu organisieren. Schließlich gehörte ich nicht zur Familie.
    Glücklicherweise hatten solche Ereignisse nie sehr lange gedauert, und in Berlin war es bisher nur Onkel Jan gewesen, der uns besucht hatte, Jens’ älterer Bruder, der ihm fast aufs Haar glich, nur etwas größere Augen hatte, aber ebenso wenig sprach. Die beiden hatten im trüb beleuchteten Wohnzimmer gesessen, einander gegenüber, und sich angeschwiegen, was mir einen Schauer über den Rücken gejagt hatte, als ich zufällig an der offenen Tür vorbeikam. Vielleicht, dachte ich mir damals, kannten sie aber auch eine Art von Kommunikation, die nur solche Brüder kennen können.
    Kuhle genoss den Schmatzer, den ihm seine Mutter aufdrückte, und es schien ihm kein bisschen unangenehm zu sein. Fast beneidete ich ihn ein wenig darum, aber seine gewaltige Mutter legte auch um mich ihre Arme und presste mich an sich. Ich hielt dann immer den Atem an, bis sie mich entließ und sagte: »Schön, dass ihr so gute Freunde seid.«
    »Das finde ich auch«, antwortete ich, was mich selbst überraschte; anderswo wäre mir eine derartige Offenlegung meiner Gefühle peinlich gewesen, zuallererst vor meiner eigenen, der Pflegefamilie.
    Bei den Kuhlmanns spielte, was mich wenig wunderte, das Essen eine große Rolle, und obwohl es diesbezüglich keinen Geiz bei mir zu Hause gab, beeindruckte mich schon, was ein Junge meines Alters und drei Schwestern, die jeweils ein Jahr jünger waren, die älteste im Jahr nach Kuhle geboren, so wegfuttern konnten. Die Mädchen waren zwar auch dick im Verhältnis zu meinen Leuten, und ganz sicher im Vergleich zu mir, dessen spitze Ellenbogen und knochige Schultern so manche Bemerkung in der Umkleidekabine provozierten, wogegen Kuhle übrigens sofort einschritt, aber sie waren Gerten neben Mama Kuhlmann und meinem gewichtigen Freund. Beim Vertilgen der bombastischen Portionen Königsberger Klopse, Koteletts – nie weniger als zwei pro Nase – mit Mischgemüse und Kartoffeln, hausgemachter Buletten mit Püree, Wagenladungen Spaghetti mit Schinken und Sahnesauce, fetter, dicker Eierkuchen und anderer Schonkost, die Mama Kuhlmann auftischte, hielten sie mit ihrem Bruder und der Mutter problemlos mit. Während ich nach einem Drittel, spätestens der Hälfte der kredenzten Menge zu ächzen begann, was Frau Kuhlmann eine sorgenvolle Mimik ins Gesicht trieb, futterten die Geschwister, als gäbe es während der kommenden Tage höchstens »trocken Brot«, wie Kuhles Mutter Essensmengen diesseits derer nannte, die sie als Mindestmaß betrachtete.
    »Bei euch gibt’s wohl nur trocken Brot«, stellte sie mehr fest, als dass sie es fragte, legte einen bedrückten Gesichtsausdruck auf und betrachtete kopfschüttelnd die Reste auf meinem Teller. Kurz nachdem wir das Essen beendet hatten und in Kuhles Zimmer gegangen waren, erschien sie schon wieder mit Tellern, auf denen sie »Häppchen« präsentierte. Meistens waren das dick beschmierte, mehrschichtig mit Wurst belegte Stullen. Mir wurde fast übel von dem Anblick, aber Kuhle langte zu, kaum dass seine Mutter das Zimmer verlassen hatte. Ich knabberte verlegen an einer Gewürzgurke, die sich wahrscheinlich allein aus dekorativen Gründen in dem Ensemble befand. Obst und Gemüse standen nicht sehr hoch im Kurs bei den Kuhlmanns, dienten bestenfalls der Mengenvergrößerung oder der Optik. Der

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