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Geisterfjord. Island-Thriller

Geisterfjord. Island-Thriller

Titel: Geisterfjord. Island-Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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den folgenden Abenden.
    Freyr zog seinen klatschnassen Mantel aus und überprüfte, ob Hallas Patientenakte eingegangen war. Er musste ihre Krankengeschichte für den Obduktionsbericht durchsehen, aber sämtliche Unterlagen wurden im Gesundheitszentrum ihres Heimatorts Flateyri aufbewahrt. Beim tagtäglichen Stress hatte er vergessen nachzuschauen, ob die Akte schon in Ísafjörður eingegangen war, was bei der kurzen Entfernung zwischen den beiden Orten eigentlich geschehen sein musste. Und so war es auch: Auf dem verlassenen Tisch der Sekretärin lag ein dicker Umschlag mit seinem Namen, den er einsteckte, nachdem er auf einem kleinen Zettel eine Nachricht hinterlassen hatte. Er wollte nicht zu allem Überfluss auch noch einen Anpfiff von der cholerischen Sekretärin bekommen.
    Im Bürotrakt des Krankenhauses herrschte Grabesstille. Freyr war froh, dass er auf dem Weg zu seinem Arbeitszimmer niemandem begegnete, damit er sein Auftauchen spät abends nicht erklären musste. Zur Sicherheit machte er die Tür hinter sich zu. Als er sich schließlich an seinen Schreibtisch setzte, fühlte er sich wie ein Einbrecher.
    Halla hatte ihr ganzes Leben lang am selben Ort gewohnt. Bis auf den Totenschein, der noch ausgestellt werden musste, begleitete der Bericht die Frau von der Wiege bis ins Grab. Falls sie jemals psychische Probleme gehabt hatte, mussten sie hier vermerkt sein, vorausgesetzt, ihre Ärzte waren darauf aufmerksam geworden. Freyr beschloss, jede Seite sorgfältig zu lesen und nach einer Erklärung für ihren merkwürdigen Brief zu suchen. Vielleicht waren psychische Störungen etwa zu der Zeit von Bennis Verschwinden bei ihr aufgetreten, und die Berichterstattung in den Medien hatte sich mit ihren Wahnvorstellungen vermischt. So etwas geschah nicht selten. Außerdem fielen ihm die Worte ihres Mannes wieder ein, ihr verstärktes Interesse an Religion hätte vor drei Jahren eingesetzt. Das passte ebenfalls in diesen Zeitrahmen. Benni war vor etwa drei Jahren verschwunden.
    Aber zwischen den endlosen Aufzählungen alltäglicher Wehwehchen und jährlicher Grippeimpfungen, den wichtigsten Eckdaten in Hallas Krankengeschichte, verbarg sich nichts Derartiges. Mit elf Jahren wurden ihr die Mandeln rausgenommen, einmal brach sie sich beim Skifahren den Arm, hatte drei normale Schwangerschaften und Geburten, eine Fehlgeburt, schnitt sich an einem Messer und so weiter. In den letzten fünf Jahren hatten ihre Arztbesuche zugenommen, immer wegen hohem Blutdruck und Cholesterinproblemen. Nichts, das man auch nur im Geringsten mit einer seelischen Krankheit in Verbindung bringen konnte. Der einzige Eintrag zu ihrem psychischen Befinden war mit dreizehn. Damals war ihre Mutter mit ihr zum Arzt gegangen, weil sie meinte, ihre Tochter verhalte sich seltsam, sei ängstlich und menschenscheu und ganz anders als sonst. Die Diagnose des Arztes lautete, die depressive Stimmung hinge mit der beginnenden Pubertät zusammen, und obwohl Freyr den Bericht mehrmals las, fand er nichts Falsches an dieser Beurteilung, außer dass so etwas heutzutage genauer beobachtet werden würde. Der Besuch hatte allerdings im selben Jahr und zu einer ähnlichen Zeit stattgefunden wie der Einbruch in der Schule, im Dezember 1953. Zur Sicherheit suchte Freyr aus dem Stapel mit Dagnýs Unterlagen den alten Polizeibericht heraus, und es stimmte, der Einbruch war Ende November desselben Jahres gewesen. Ein bemerkenswerter Zufall. Jemand brach in die Grundschule ein, und Halla hatte eine Depression, jemand brach in den Kindergarten ein, und Halla nahm sich das Leben. Kein eindeutiger Zusammenhang, aber dennoch etwas, das man verfolgen sollte.
    Als Freyr in der Krankenakte nichts mehr fand, blätterte er noch einmal Dagnýs Papiere durch. Er stieß auf eine Zusammenstellung des Inhalts von Hallas Handtasche, die in der Kirche auf dem Boden gelegen hatte. In der Tasche war nichts Ungewöhnliches: ein Kosmetiktäschchen, eine Geldbörse, eine kleine Haarbürste, eine Packung Ibufen, Kaugummi, Schlüssel und Handy. Aber bei dem Handy stand eine interessante Notiz. In dem Gerät waren jede Menge SMS mit demselben Text gespeichert:
Finde mich. Finde Benni.
Die Nummer des Absenders war unbekannt, und die letzten Mitteilungen im Posteingang waren drei Monate alt. Schwer zu sagen, ob der Absender seine Aktivitäten eingestellt hatte oder ob das Postfach einfach voll gewesen war. Freyr las die Notiz wieder und wieder und wurde immer ratloser – die beiden Worte

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