Geisterfjord. Island-Thriller
zusammenstellen. Nach kurzem Nachdenken fügte er hinzu, er werde ihn voraussichtlich morgen früh anrufen. Es war einfacher, direkt mit dem Mann über die Narben zu reden und ihm zu sagen, dass Halla nur Bluthochdruck- und Cholesterin-Medikamente eingenommen hatte.
Bevor Freyr das Mailprogramm zumachte, klickte er noch eine Mail von Sara an. Im ersten Moment hatte er damit bis morgen früh warten wollen, aber dann beschlossen, Unangenehmes lieber nicht aufzuschieben. Als er den kurzen Text gelesen hatte, bereute er es. Sara war immer noch beim selben Thema und bat ihn, sie anzurufen, da sie ihn nicht wieder auf der Arbeit stören wolle. Sie müsse dringend mit ihm reden, sie hätte das Gefühl, dass Benni ihn heimsuchen würde und auf dieses Ereignis müsse sie ihn vorbereiten. Freyr seufzte. Sara hatte schon öfter behauptet, Benni zu sehen und zu hören, und bei allen Schwierigkeiten, die sie hatten, fiel ihm der Umgang mit diesen Sinnestäuschungen am schwersten. Er kam zwar mit den Problemen seiner Patienten zurecht, aber wenn seine Exfrau dieselben Verhaltensweisen an den Tag legte, war das eine ganz andere Sache. Er machte das Mailprogramm zu, fest entschlossen, sie weder heute Abend noch morgen früh anzurufen. Im Lauf der Woche würde Sara die Geschichte wieder vergessen und andere Phantasien entwickeln.
Freyr zuckte zusammen, als er die Türklinke klickte. Wieder ging die Tür langsam auf, blieb aber, nachdem sie sich einen Spalt geöffnet hatte, stehen. Das Knacken der Neonlampe drang in den Raum und schien lauter geworden zu sein.
»Hallo?« Freyr beugte sich über den Schreibtisch und schaute durch den Türspalt. Im Flur blinkte nur die defekte Deckenlampe. »Hallo?« Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als eine vertraute Stimme eine Antwort flüsterte. Eine Stimme, die stets Lebendigkeit, Sanftheit und Fröhlichkeit ausgestrahlt hatte, aber jetzt kalt und tot klang. Eine Stimme, die so nah wirkte und gleichzeitig so unendlich weit entfernt.
»Papa.«
11. Kapitel
Der Schneeregen ließ nicht nach. Durchs Schlafzimmerfenster im Obergeschoss hatten sie gesehen, wie die Schlechtwetterfront aus südlicher Richtung übers Meer gezogen war. Es sah aus wie ein schwarzer Vorhang, den der schwache Mondschein kaum durchdrang. Vor dem Vorhang war der Himmel sternenklar, und dahinter war es stockfinster. Kurz bevor der Graupel gegen das Haus klatschte, wurde das bisschen Licht, das von draußen ins Zimmer geschienen war, ausgelöscht, und ihre Augen brauchten eine Weile, um sich an die völlige Dunkelheit zu gewöhnen. Jetzt sahen sie nur noch das Fenster, den Schneeregen, der gegen die Scheibe prasselte, und ihre eigenen Konturen. Sie lagen so dicht beieinander, dass sie die Nähe der anderen spüren konnten. Was gut war.
»Ich kann bestimmt nicht einschlafen«, murmelte Líf durch den dicken Schlafsack, den sie sich über den Kopf gezogen hatte. »Warum sind wir nur hergekommen?«
Katrín antwortete nicht – es hätte ohnehin nur Ärger gegeben, Líf daran zu erinnern, dass Garðar und sie für diesen Schwachsinn verantwortlich waren. Garðar blieb ebenfalls still, und Katrín hoffte, dass er nicht eingeschlafen war. Es wäre nur fair, wenn er als Letzter ins Reich der Träume glitt, denn die abendlichen Ereignisse setzten Katrín und Líf wesentlich mehr zu als ihm. Katrín stieß ihn mit dem Ellbogen an und war erleichtert, als er sich beschwerte. Dann war er wenigstens noch wach. Der Schneeregen peitschte immer kräftiger gegen die Scheibe, und ein kühler Luftzug drang durch das undichte Fenster.
»Weiß jemand, ob der Ofen noch warm ist?«, fragte Katrín und wollte nur eine Antwort hören: dass er noch warm war und das Brennholz für die ganze Nacht reichen würde. Keiner wollte runtergehen und Holz nachlegen. Wobei Katrín eindeutig die beste Position hatte: Putti lag auf ihren Beinen und hielt ihre Füße schön warm.
»Ich glaube schon.« Garðars Stimme klang gefährlich schläfrig. »Aber bestimmt nicht mehr lange.«
»Dann erfrieren wir eben. Ich will lieber in der Kälte krepieren, als von einem durchgeknallten Kind, das im Wahn durch die Gegend irrt, abgestochen zu werden«, sagte Líf und steckte ihren Kopf aus dem Schlafsack, damit es auch jeder mitbekam. »Das Schloss an der Haustür ist ein Witz.«
»Die Schlösser sind völlig okay, sowohl an der Haustür als auch am Hintereingang. Wer da reinwill, muss schon die Tür aufbrechen.« Garðar klang nicht besonders
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