Geisterfjord. Island-Thriller
Fragen über seine Zukunft verbunden. Schlimmstenfalls hatte er dabei Bilder von sich selbst vor Augen, auf denen er immer noch in dem ungemütlichen Einfamilienhaus in Ísafjörður saß und bis spät in die Nacht fernsah. Alleine.
Der Schneeregen peitschte mit voller Kraft gegen die Windschutzscheibe, und die Scheibenwischer konnten trotz hektischer Bewegungen nicht viel gegen ihn ausrichten. Freyr krallte sich am Lenkrad fest und lockerte seinen Griff erst ein wenig, als er die Stadtgrenze erreichte. Das Auto war alt und billig; Freyr hatte sich nach der Scheidung, bei der er Sara ihre gemeinsamen Ersparnisse überlassen hatte, kein anderes leisten können. Er hatte wieder ganz von vorne angefangen und würde mit der Zeit auch finanziell wieder auf die Beine kommen, während Sara wahrscheinlich nie mehr imstande wäre, Vollzeit zu arbeiten. Durch diese Übereinkunft war sie zumindest finanziell unabhängig, sie hatte es ohnehin schon schwer genug. Die einzige Bedingung, die er gestellt hatte, war, dass das Haus verkauft würde. Er wusste, dass es Sara nicht guttat, durch das leere Haus zu wandern, wo sie ständig an Benni und ihr früheres Leben erinnert werden würde. Sara hatte eine schöne Wohnung in der Innenstadt gekauft, aber Freyr hatte kürzlich von einer besorgten Freundin gehört, Sara hätte vor, die Wohnung wieder zu verkaufen und eine andere in Ártúnsholt in der Nähe ihres alten Hauses zu kaufen – zweifellos, um die ewige Suche nach ihrem Sohn dort fortzuführen. Aber dazu konnte er nicht mehr viel sagen.
Die Diskussion im Radio ging zu Ende. Die ganze Fahrt über hatte er sich das frustrierende Gespräch mit einem Wirtschaftsexperten angehört, der sich in ziemlich düsteren Prognosen über die wirtschaftliche Entwicklung des Landes erging. Wenn die Diskussion aus Versehen mal in eine etwas positivere Richtung abdriftete, waren die Beteiligten so perplex, dass sie sich gegenseitig ins Wort fielen, um wieder in ihre ursprünglichen Bahnen zurückzugelangen. Freyr hatte keine Ahnung, warum er diese Weltuntergangsstimmung über sich ergehen ließ, schließlich gab es genug andere Radiosender. Aber jetzt war es zu spät, den Sender zu wechseln, denn das Krankenhaus lag um die nächste Ecke. Nachdem er ziellos am Fjord entlanggezockelt war, hatte er beschlossen, dorthin zu fahren. Er hatte gar nicht vorgehabt, im Krankenhaus zu landen, sondern nur eine Spritztour gemacht, um den Kopf frei zu kriegen. Das Fernsehprogramm hatte ihn nicht interessiert, und er wollte auch nicht früh ins Bett gehen und Gefahr laufen, mitten in der Nacht aufzuwachen und stundenlang grübelnd wach zu liegen.
Die Fahrt am Fjord entlang hatte ihm geholfen, seine Gedanken zu sortieren. Dagnýs Unterlagen hatten ihn so erschüttert wie lange nichts mehr, und er befand sich erschreckend nah an dem Abgrund, den seine Exfrau bereits hinabgestürzt war. Abgesehen von den ersten Wochen nach Bennis Verschwinden hatte Freyr es bisher immer geschafft, die schlimmsten Gedanken nicht an sich heranzulassen. Er konnte nichts an den Tatsachen ändern, und Sara auch nicht. Das musste er sich immer ins Gedächtnis rufen, wenn er Gefahr lief, sich Vorhaltungen zu machen, dass er am Morgen von Bennis Verschwinden noch so lange im Büro geblieben war. Es hätte nichts geändert, wenn er eine Stunde früher zu Hause gewesen wäre. Nichts. Oder doch? Natürlich kamen ihm oft Zweifel, aber er drängte sie immer in die hinterste Ecke seines Gehirns und beschäftigte sich mit etwas anderem, ganz schnell, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen. Sara war das nicht gelungen, und er konnte es ihr nicht verdenken. Keiner wusste so gut wie er, wie schwer es war, solche bitteren Gedanken im Zaum zu halten, und Sara hatte sich noch nie gut beherrschen können. Anders als er. Jetzt hatte er es wieder mal geschafft, der Verzweiflung Herr zu werden, sich zu zwingen, das Problem anzugehen und zu lösen.
Die Frage, die sich ihm nun stellte, war allerdings sehr speziell: Warum erwähnte eine völlig fremde Frau aus Flateyri Benni in ihrem Abschiedsbrief? Die Antwort lag im Dunkeln, aber es gab immer eine Erklärung, wie merkwürdig die Dinge auch waren, und er musste diese Erklärung unbedingt finden. Deshalb hatte er beschlossen, zum Krankenhaus zu fahren, Dagnýs Unterlagen zu holen und sich sofort an die Arbeit zu machen. Er würde sich auf keinen Fall wieder vor den Fernseher setzen oder etwas anderes machen, nicht heute Abend, und bestimmt auch nicht an
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