Geisterfjord. Island-Thriller
die Kiesel unter Lífs Füßen, doch dann hörte Katrín ein leises Weinen, das unmöglich zu orten war. Sie packte Garðar noch fester und flüsterte: »Hast du das gehört?«
Líf war immer noch ein Stück von ihnen entfernt, aber nah genug, um zu merken, dass etwas nicht stimmte. Sie blieb stehen. »Hallo! Was ist los?«
»Komm zu uns, Líf. Bleib nicht stehen.« Garðar versuchte, ruhig zu wirken, aber Katrín merkte, dass er erstarrt war. Er musste das Geräusch auch gehört haben. »Komm schnell her.« Líf rührte sich nicht. Die Bierdose in ihrer Hand wirkte bizarr, so als befände sie sich im Sommer bei einem Festival. »Steh da nicht wie angegossen rum, beeil dich!«, rief Garðar, um Putti zu übertönen, der jetzt so laut bellte, wie sein kleiner Körper es zuließ. Das Weinen war bei dem ganzen Lärm nicht mehr zu hören.
Als Líf endlich reagierte und zu ihnen rannte, sah Katrín, warum Garðar so reagiert hatte – nicht wegen des leisen Weinens, sondern wegen des menschlichen Wesens, das an der Uferböschung stand, direkt hinter der Stelle, an der die erste Dose gelegen hatte. Katrín stockte der Atem. Trotz der nagenden Gewissheit, dass außer ihnen noch jemand in der Gegend war, hatten ihre letzten kleinen Zweifel ihre Angst bisher einigermaßen im Zaum gehalten. Aber jetzt gab es keinen Grund mehr für Zweifel. In der Dämmerung konnte Katrín nicht alles erkennen, aber sie sah, dass die Person ihren Kopf, der in einer Kapuze steckte, auf die Brust gesenkt hatte und die Arme hängen ließ. Katrín hatte noch nie jemanden so stehen sehen. Es sah aus wie eine Kapitulation vor der Ungerechtigkeit der Welt. Ihr war sofort klar, dass das Weinen von diesem armen Wesen stammen musste. Aber warum stand es alleine dort oben und weinte? Die undeutlichen Konturen des Regenmantels machten es unmöglich zu erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Plötzlich bewegte sich das Wesen, und da merkte Katrín, dass es viel näher war, als sie zuerst gedacht hatte. »Um Gottes willen!« Sie krallte ihre Finger in Garðars Arm. »Es ist ein Kind!«
Garðar löste sich aus ihrem Griff, ging Líf entgegen, fasste sie an den Schultern und schob sie unsanft neben Katrín. Sie hatte immer noch die Bierdose in der Hand. »Wartet hier.« Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte er, so schnell es auf dem losen Kies ging und ungeachtet seines verletzten Fußes, auf das Kind zu. Katrín konnte ihn nicht mehr zurückhalten und sah ihn auf die Uferböschung zuschießen. Doch als er sich dem Kind näherte, machte es auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Dunkelheit. Und Garðar ihm nach. Die Schritte oberhalb des Strands wurden leiser, je weiter die Verfolgungsjagd von ihnen wegführte. Stattdessen war nur noch Lífs Wimmern zu hören. Putti war ungewöhnlich still und lag unterwürfig zwischen ihnen auf dem Bauch.
Katrín schirmte ihren Mund mit den Händen ab und rief verzweifelt Garðars Namen. Der Wind trug ihre Rufe aufs Meer hinaus. »Komm!« Katrín ließ die Arme sinken. Es brachte nichts, sich die Kehle aus dem Hals zu schreien, ihnen blieb nichts anderes übrig, als am kalten Strand zu warten, bis Garðar zurückkäme. Auch wenn sie Kinder sehr mochte, hoffte sie inständig, dass er alleine wäre.
Mit diesem Kind stimmte etwas nicht. Und es war nicht ihre Aufgabe, seine Probleme zu lösen.
10. Kapitel
Das Wetter verschlechterte sich, entgegen aller Vorhersagen. Freyr wunderte sich nicht darüber, da es in letzter Zeit ungewöhnlich mild gewesen war. Bevor er sich endgültig entschieden hatte, in die Westfjorde zu ziehen, hatte er sich viele Gedanken über das Wetter gemacht. Er war zwar nie ein großer Wintersportler gewesen, wusste aber, dass in Ísafjörður ein beliebtes Skigebiet war; seit dem Absturz der Krone fuhren seine Bekannten aus Reykjavík lieber dorthin, anstatt sich in den österreichischen oder italienischen Alpen zu vergnügen. Wegen der ungewöhnlich warmen Temperaturen hatten sie sich bisher noch nicht blicken lassen, obwohl ein Besuch geplant war, als Freyr im Herbst in die Westfjorde gezogen war. Er wusste nicht genau, ob er über den Aufschub des Besuchs enttäuscht oder erleichtert sein sollte. In der ersten Zeit nach dem Umzug hatte er sich auf seine Freunde gefreut, aber mit der Zeit wollte er immer weniger an sein altes Leben erinnert werden. Manche Dinge wollte er lieber vergessen, einige für immer. Die Gespräche mit seinen Bekannten aus Reykjavík waren immer mit unangenehmen
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