Geisterfjord. Island-Thriller
klangen ganz ähnlich wie das, was Halla in ihrem Brief geschrieben hatte. Freyr spürte, wie sein Herz schneller schlug, als er den Namen seines Sohnes zum zweiten Mal in Verbindung mit dem Selbstmord sah. Er legte das Blatt beiseite und versuchte, die Nerven zu behalten.
Dann nahm er das alte Klassenfoto, das bei dem Einbruch zerkratzt worden war. Die Kinder standen in drei Reihen und starrten geradeaus, mit ziemlich verdutzten Gesichtern, so als hätte der Fotograf unangekündigt abgedrückt. Die Gesichter der Kinder, die der Täter zerkratzt hatte, sah man natürlich nicht, aber sie hatten wahrscheinlich auch nicht vergnügter ausgesehen als ihre Klassenkameraden. Die meisten Kinder trugen ihre besten Kleider, die Jungen Hemden und Krawatten und die Mädchen Röcke und schicke Pullover mit Knopfreihen. Die einzige Ausnahme war ein kleiner Junge, der am Rand der mittleren Reihe stand. Er war weder besonders ausstaffiert, noch machte er ein verwundertes Gesicht. Er wirkte nur furchtbar traurig, seine großen, dunklen Augen schauten nicht in die Kamera, sondern von der Gruppe weg. Zudem stand er ein wenig abseits, nicht Schulter an Schulter wie die anderen, was Freyrs Eindruck verstärkte, dass er entweder neu in der Klasse oder aus anderen Gründen nicht integriert war. Seine Kleidung sah unordentlich aus, die Hose war zu kurz und der Pulli abgetragen und schmutzig. Wieder ärgerte sich Freyr darüber, nur eine Kopie in der Hand zu haben, auf der die Namen der Kinder unter dem Foto unleserlich waren. Er hatte nur die Liste mit den Namen der Schüler, die der Einbrecher auf dem Foto unkenntlich gemacht hatte. Freyr hätte gerne gewusst, wer noch in der Klasse gewesen war, in der Hoffnung, dass einige noch in Ísafjörður wohnten. Vielleicht konnte ein ehemaliger Schüler ihm Dinge erzählen, die nicht in den Polizeiberichten standen. Womöglich hatten die Kinder gewusst, wer der Täter war, es der Polizei und der Schule aber nicht gesagt.
Freyr lehnte sich im Stuhl zurück und musterte die verwirrenden Papiere, die ihn noch ratloser machten. Die Erklärung war vielleicht einfach, dass es keine Erklärung gab. Aber er durfte nicht so schnell aufgeben. Wenn er jetzt das Handtuch warf, würde die Geschichte ihn wie ein Albtraum verfolgen. Er sah, dass es schon zu spät war, um Dagný anzurufen. Vielleicht hatte sie noch mehr Informationen über den Fall und ihm nicht alle Unterlagen gegeben. Und sie hatte das Originalklassenfoto, auf dem die Namen der Schüler standen. Freyr beschloss, ihr eine E-Mail zu schicken, die sie morgen früh vorfinden würde.
Als er den Computer einschaltete, knarrte es laut an der Bürotür, und er schaute auf. Die Tür ging langsam auf, so als hätte der Besucher keine Hand frei und die Tür mit der Schulter aufgestoßen. Doch bevor sie weit genug auf war, um jemanden hereinzulassen, blieb sie stehen.
»Hallo?« Freyr saß reglos auf seinem Stuhl. »Wer ist da?«
Keine Antwort. Nur das Knistern der defekten Neonlampe draußen im Flur. »Hallo?«
Irritiert stand Freyr auf und öffnete die Tür. Draußen war niemand zu sehen. Er blickte durch den Flur. Nichts. Wahrscheinlich hatte er die Tür vorhin nicht richtig zugemacht. Er zuckte die Achseln, zog die Tür wieder zu und ruckelte dabei am Griff, um sich zu vergewissern, dass das Schloss eingeschnappt war. Dann setzte er sich an den Computer und rief sein Mailprogramm auf. Dort wartete eine Mail seines Kollegen aus dem Landeskrankenhaus. Im Betreff stand der Name Halla, und Freyr klickte sie neugierig an. Das Anliegen war allerdings ziemlich profan. Der Absender war ein Arzt aus der Pathologie, der Hallas Obduktion durchführen sollte. Er bat Freyr, ihm mitzuteilen, wohin er seinen Bericht schicken solle, und wollte wissen, ob Freyr ihm Informationen über Psychopharmaka oder andere Medikamente, die Halla eingenommen hatte, zukommen lassen könne – er schien davon auszugehen, dass sie wegen psychischer Störungen in Behandlung gewesen war. Dann fragte er noch, ob Freyr einen ausführlichen Krankenbericht zusammenstellen würde, vor allem bezüglich der Narbenbildung auf dem Rücken der Frau. Freyr runzelte die Stirn, nahm die Krankenakte und suchte darin nach Einträgen über Verletzungen, die Narben auf dem Rücken hinterlassen haben könnten. Aber er fand keine. Kein Unfall, keine Krankheit oder sonst etwas. Freyr schrieb dem Mann zurück und teilte ihm mit, er verfüge über die Unterlagen und werde den Bericht schnell
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