Geisterfjord. Island-Thriller
Träume. Védís konnte sein Gesicht nie erkennen und wachte immer dann schweißgebadet auf, wenn er kurz davor war, sie anzuschauen. Meistens erschien er weit entfernt oder drehte ihr den Rücken zu und stand gebeugt da. Es war unklar, wer dieser Junge war, aber im Traum hatte Védís die Aufgabe, ihn einzuholen und mit ihm zu reden. Sie schaffte es nie. Der Junge war nie greifbar, wie schnell sie auch rannte oder wie behutsam sie auf ihn einredete. Freyr war sich ziemlich sicher, dass Védís wusste, welcher Junge gemeint war, aber sie schrieb seinen Namen nie auf, erwähnte nur, dass er ihr bekannt vorkomme, sie sich aber nicht sicher sei, ob sie das überhaupt wissen wolle. Dies war ein Hinweis darauf, dass Védís Gewissensbisse hatte, die sie verdrängte, dass sie eine schmerzhafte Erfahrung nicht verarbeitet hatte. Wenn sie sich dem Problem in wachem Zustand nicht stellte, war es ganz natürlich, dass es in ihren Träumen vorkam.
Den letzten Traum hatte sie an dem Morgen aufgeschrieben, bevor sie in ihrem Garten gestorben war. Am selben Tag, an dem Freyrs Sohn verschwunden war. Freyr las ihn besonders aufmerksam, fand aber kaum etwas, das Licht auf diesen seltsamen Zufall warf. Der Traum war im Großen und Ganzen genauso wie sonst, eine aussichtslose Verfolgung des unbekannten Jungen durch dunkle, nebelhafte Gänge vorbei an weinenden Kindern. Die Kinder drückten sich an die Wände des Labyrinths, durch das Védís irrte, und weigerten sich, ihre Gesichter zu zeigen, wenn sie sich zu ihnen hinunterbeugte. Sie waren wie üblich mit Schnitten, Wunden und blauen Flecken übersät, die Védís sehen konnte, wenn sie ihre Hände nach ihren Beinen ausstreckten. Im Grunde gab es nur einen einzigen Unterschied zu den vorherigen Träumen: Über allem lag ein grüner Schleier, und Védís konnte in dieser grünlichen Luft kaum atmen. Sie schrieb, sie habe sich wie in einem stickigen U-Boot gefühlt. Und der Traum ging anders zu Ende. Diesmal schaffte sie es, dicht hinter den Jungen zu kommen und ihn an der Schulter zu packen. Im selben Moment, als sie sein knochiges Schultergelenk berührte, merkte sie, dass das ein schrecklicher Fehler war. Dann hörte sie den Jungen sagen: »Das hättest du besser nicht getan.« Die Stimme klang eher nach einem älteren Mann als nach einem Kind, aber das Schlimmste war, dass sie von hinten kam. Der Junge, den sie festhielt, war gar nicht derselbe wie der, den sie die ganze Zeit verfolgt hatte. Er stand hinter Védís, und als sie sich langsam umdrehte, wachte sie auf und fühlte sich völlig zerschlagen.
»Es gibt nur eine Verbindung zu Benni, und die ist total abwegig.« Freyr strich sich mit der Hand durchs Haar, nachdem er Dagný ausführlich von Védís’ Träumen erzählt hatte. »Einer der Jungen, die mit Benni Verstecken gespielt haben, hat ausgesagt, Benni hätte sich in einem U-Boot verstecken wollen. Anschließend hat er das wieder zurückgenommen.« Freyr brannten die Augen vom vielen Lesen, und er blinzelte ein paarmal. »Deshalb hat die Polizei es immer für wahrscheinlich gehalten, dass Benni im Meer ertrunken ist, aber sie haben nichts gefunden, das man mit den Augen eines Kindes als U-Boot bezeichnen könnte.«
»Aber warum sollte sich der Junge das einfach so ausdenken?« Dagný saß Freyr am Küchentisch gegenüber, mit einem Glas Rotwein, der noch im Haus gewesen war. Es war kurz vor Mitternacht. »Und es dann wieder zurücknehmen?«
»Kinder sind ganz schlechte Zeugen. Der Junge war offenbar schwer beeindruckt, dass die Polizei mit ihm geredet hat, und wollte unbedingt helfen. Vielleicht hat er sich in seiner Phantasie vorgestellt, dass Benni in einem U-Boot entführt wurde. Seine Eltern haben gesagt, er hätte kurz vorher einen Film gesehen, in dem ein U-Boot vorgekommen ist. Außerdem hatte dieser Junge schon aufgehört zu spielen und war zum Geburtstag seines Cousins gegangen, als Benni verschwand. Er kann also gar nichts Wichtiges gesehen oder gehört haben. Seine Eltern konnten das bezeugen.«
Dagný nickte und wechselte dann das Thema. »Ich würde gerne wissen, ob Védís’ Tod genauer untersucht worden wäre, wenn man das Traumtagebuch gefunden hätte.« Sie errötete leicht. »Du weißt schon. Wegen der Sache mit der Gartenschere.«
Freyr goss den restlichen Rotwein in ihr Glas. Er wollte keinen mehr. Es wäre ihm unangenehm gewesen, unter diesen Umständen betrunken zu sein. »Wer weiß. Kann schon sein, dass es eine Verbindung zwischen den
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