Geisterfjord. Island-Thriller
Zusammenfassungen, bei denen womöglich etwas ausgelassen oder hinzugedichtet worden war. Bei Träumen gab es keine neutralen Zeugen, weshalb sie in der Psychoanalyse bestenfalls Hilfsmittel waren, wenn alles andere versagt hatte.
Zum ersten Mal bedauerte Freyr, sich nicht besser mit den neuesten Theorien über Traumdeutungen auszukennen. Er wusste, dass es klinische Untersuchungen auf dem Gebiet gab, aber die meisten Artikel in Fachzeitschriften hatte er nur flüchtig zur Kenntnis genommen. Er besaß ein gutes Buch über das Thema, in dem über fünfzigtausend Träume analysiert worden waren, aber das lag in irgendeiner Abstellkammer. Freyr erinnerte sich noch an das Ergebnis dieser großangelegten Studie: Auf der ganzen Welt träumten die Leute ähnliche Dinge, und ihre Träume waren größtenteils von Ereignissen des täglichen Lebens beeinflusst. Ein Feuerwehrmann träumte beispielsweise häufiger von Bränden als ein Taucher. Schwer zu sagen, wie diese Erkenntnis auf Védís zutreffen sollte – falls ihre Träume ihren Alltag widerspiegelten, dann war der zumindest ziemlich ungewöhnlich.
Freyr hatte jeden einzelnen Traum in ihrem Buch gelesen, aber es waren nicht viele, und sie waren kurz. Einige las er zweimal, manche auch dreimal. Er wollte herausfinden, was diese merkwürdigen Beschreibungen über die Frau aussagten, wie sie ihre Träume interpretierte, ihre wirren nächtlichen Gedanken nacherzählte und was ihr dabei am wichtigsten war. Er untersuchte sogar Védís’ Schrift, in der Hoffnung, dadurch etwas über ihre seelische Verfassung in Erfahrung zu bringen, aber ihre zarte Handschrift war fast immer gleich und ließ keine emotionalen Schwankungen erkennen. Die Buchstaben waren akkurat und deutlich, die Schrift ein wenig nach rechts geneigt und die Großbuchstaben am Anfang der Sätze und Namen verschnörkelt. Die Handschrift sagte nicht viel über die Frau aus – im Gegensatz zu ihren Träumen. Freyr glaubte, dass die Beschreibungen echt waren und dass Védís nichts hinzugedichtet hatte, denn die Einträge waren unregelmäßig. Wenn sie ihre Träume jeden Tag ausführlich beschrieben hätte, wäre er misstrauischer gewesen, denn es war nicht üblich, dass man sich jeden Morgen daran erinnern konnte.
Védís’ Träume waren erst ab 2007 wirklich interessant. Bis dahin zeugten sie von einem normalen Alltag, den der Schlaf auf groteske Weise entstellte und zu einem Abenteuer oder Albtraum machte. Védís fand sich in Umständen wieder, die mal übertrieben, mal reizvoll waren, oder in einer Welt, in der ihr Arm abfiel, ihr Haus von der Erde verschluckt wurde oder sie im Gefängnis landete. Védís’ Traumdeutungen waren sehr simpel: Schlechte Ereignisse wiesen auf etwas Gutes hin und umgekehrt. Wenn Freunde oder Verwandte in ihren Träumen vorkamen, erzählte sie ein bisschen über sie und gemahnte sich am Ende meist, Kontakt zu ihnen aufzunehmen, sie vor etwas zu warnen oder sie zu fragen, ob Nachwuchs anstünde. Zweimal hatten ihr verstorbene Angehörige werdender Eltern Namen für deren Nachwuchs übermittelt. Ganz normale Träume einer ganz normalen Frau.
Doch im Februar 2007 nahmen die Beschreibungen urplötzlich eine neue Gestalt an. Védís war zunächst etwas zögerlich mit den Deutungen dieser sonderbaren Träume. Sie drehten sich nicht mehr um Verwandte und Freunde oder andere vertraute Dinge, sondern um eine Welt voller Dunkelheit, Gefahren und Boshaftigkeit, und Védís wachte jedes Mal schweißgebadet auf. Zunächst versuchte sie, die Träume als positive Vorzeichen zu deuten: Sie würde endlich im Lotto gewinnen, wenn sie bestimmte Ereignisse in ihren Träumen zählte. Aber schon bald gab sie auf und bekam immer größere Angst. Sie konnte nicht mehr richtig schlafen und war unausgeruht – die perfekte Voraussetzung für psychische Probleme, Ängste und Depressionen. Als diese Träume ein halbes Jahr angedauert hatten, ließen sich ihre Deutungen kaum mehr nachvollziehen, und es wurde immer schwieriger, daraus Hinweise über sie und ihre Lebensumstände abzulesen.
Man musste jedoch nichts über Védís wissen, um ein bestimmtes Detail mit ihrem Leben in Verbindung zu bringen. Oder vielmehr mit ihrem Tod. Die letzten zwei Monate vor ihrem Unfall erschienen ihr im Traum immer öfter Gartenscheren. Sie waren blutverschmiert und bedrohlich. Védís’ Beschreibung nach befand sich die Schere entweder auf dem Boden oder in der Hand eines Jungen, der Hauptperson dieser wirren
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