Geisterstunde
schienen, daß sie die Welt hätten verschlingen können. »Wie heißt sie?«
»Tinnie. Tinnie Täte.«
»Ist sie hübsch?«
»Ja.« Die Rothaarige spielt in derselben Liga wie Jennifer. Die ›Heul den Mond an‹-Klasse. Aber wir haben auch unsere Probleme. Und eins davon ist, daß wir nirgendwo hingelangen. Wir führen so eine Art: ›Ich kann nicht ohne dich und nicht mit dir leben‹-Beziehung. Keiner von uns hat genug Zuversicht, um eine richtige Bindung einzugehen.
Dabei hätte ich vielleicht eine eingehen können. Mit Maya … Vielleicht hat sie aber auch nur so oft gesagt, sie wolle mich heiraten, daß ich die Möglichkeit einfach akzeptiert hatte. Was sie jetzt wohl machte? Ob sie erwartete, daß ich sie suchte? Ich fragte mich, ob sie wohl jemals zurückkehren würde.
»Sie sind schrecklich rücksichtsvoll, Garrett.«
»Daran ist Tinnie schuld. Und dieser Ort … Dieses Haus …«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich lebe hier und weiß, was Sie meinen. Es ist verwünscht. Eine richtige Geisterstadt, in der um Mitternacht die Verflossenen herumspuken. Einige von uns leben in der Vergangenheit, und der Rest wartet auf eine Zukunft, die niemals kommen wird.
Kelle, die in einer anderen Welt existiert, ist der Fels, der uns zusammenhält.«
Eigentlich erzählte sie es mir nicht. Sie wollte einfach nur ihre Gefühle in Worte kleiden.
»Draußen vor der Tür ist eine Straße, Garrett. Keine halbe Meile entfernt. Sie führt nach TunFaire, nach Karenta, und in die ganze Welt. Ich habe keinen Fuß mehr vor das Tor gesetzt, seit ich vierzehn war.«
»Wie alt sind Sie jetzt?«
»Zweiundzwanzig.«
»Wer hält Sie hier fest?«
»Keiner außer mir selbst. Ich habe Angst. Alles, was ich zu wünschen glaube, befindet sich dort draußen. Und ich fürchte mich, hinzugehen und es mir anzusehen. Mit vierzehn hat Kelle mich zu einer Sommerkirmes mitgenommen. Ich wollte unbedingt hin. Es war das einzige Mal, daß ich den Besitz verlassen habe. Es hat mich in Angst und Schrecken versetzt.«
Merkwürdig. Die meisten schönen Frauen haben derartige Schwierigkeiten nicht, weil sie ihr ganzes Leben lang im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen.
»Ich kenne meine Zukunft. Und sie flößt mir Angst ein.«
Ich sah sie an und dachte, sie meinte Wayne. Ich wäre auch ziemlich beunruhigt, wenn ich Gegenstand solcher Pläne wäre.
»Ich werde hierbleiben, im Herzen meiner Festung, und mich in eine verrückte alte Frau verwandeln, während das Haus um mich und Kelle herum zerfällt. Ich werde niemals Mut genug finden, Handwerker zu engagieren, die es reparieren. Fremde machen mir angst.«
»So muß es nicht laufen.«
»O doch, es muß. Mein Schicksal ist seit dem Tag entschieden, an dem ich geboren wurde. Hätte meine Mutter überlebt … Aber sie hätte die Dinge vermutlich auch nicht ändern können. Nach allem, was ich gehört habe, war sie eine seltsame Frau. Sie war Tochter eines Feuerlords und einer Sturmwächterin und wuchs in einer Umgebung auf, die fast so unwirtlich war wie meine. Sie wurde meinem Vater durch eine Verabredung zwischen ihren und seinen Eltern versprochen. Sie haben sich vor ihrem Hochzeitstag niemals gesehen. Trotzdem hat mein Vater sie geliebt, und was geschehen ist, hat ihn sehr geschmerzt. Er erwähnt sie nie, weil er nicht über sie sprechen will. Aber ihr Bild hängt in seinem Schlafzimmer. Manchmal liegt er da und starrt es stundenlang einfach nur an.«
Was kann man erwidern, wenn jemand einem so etwas erzählt? Ich konnte sie nicht einfach in den Arm nehmen und den Schmerz mit einem Küßchen heilen. Und tun kann man auch nicht viel, genauso wenig wie reden. »Ich gehe spazieren«, erklärte ich. »Wollen Sie sich nicht etwas anziehen und mitkommen?«
»Wie kalt ist es?«
»Es ist nicht mehr ganz so schlimm.« Der Winter drohte nur ein bißchen. Er war zu feige, wirklich zuzuschlagen und die Welt zu tyrannisieren. Was mir ganz gut in den Kram paßte. Winter ist nicht meine bevorzugte Jahreszeit.
»Einverstanden.« Sie drückte sich vom Geländer ab und ging die Treppe hinunter zu ihrer Suite. Ich trottete neben ihr her, was in Ordnung war, bis wir vor ihrer Tür ankamen. Dort wurde Jennifer nervös. Sie wollte nicht, daß ich mit hineinkam.
Auch gut. Dann blieb ihre Festung vorläufig unberührt. Ich ging ein paar Meter zurück in den Flur.
Meine etwaigen Zweifel an ihrem Mangel an sozialen Fähigkeiten verschwanden, als sie in weniger als einer Minute wiederkam. Ich hatte
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