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Geisterstunde

Geisterstunde

Titel: Geisterstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glen Cook
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noch nie eine Frau kennengelernt, die nicht mindestens eine halbe Stunde brauchte, um ihre Schuhe zu wechseln. Jennifer hatte nicht nur Stiefel angezogen, sondern auch einen praktischen, militärischen Wintermantel, der ihr überraschenderweise sehr schmeichelte, weil er die Aufmerksamkeit auf ihr Gesicht lenkte. Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Was für eine Schönheit hier hinter Schloß und Riegel verschwendet wurde! Eine so schöne Frau sollte, ebenso wie ein schönes Gemälde, unter Menschen sein, damit alle sie bewundern konnten.
    Wir gingen die Treppe hinunter und den Flur entlang, an dessen Wänden die Ahnen der Stantnors hingen. Sie verfolgten uns mit mißbilligenden Blicken. Genauso wie Wayne, der vermutlich dachte, ich wollte ihm seine Beute wegschnappen.
    Draußen war es nicht so mild, wie ich versprochen hatte. Der Wind hatte aufgefrischt, nachdem Eierkopf weggefahren war. Er war beißend scharf, aber Jennifer bemerkte es nicht. Wir stiegen die äußere Treppe hinab, und ich schlug den Weg ein, den Schocke, Peters und Tyler gestern abend genommen hatten.
    »Möchten Sie vielleicht die Stadt sehen? Wenn Sie es ohne allzuviel Umstände tun könnten?« Ich hatte vor, Eierkopf auf sie anzusetzen. Er schafft es, daß Frauen sich bei ihm geborgen fühlen, obwohl er normalerweise Ladies bevorzugt, die höchstens einsfünfzig groß sind.
    »Falls Sie mich retten wollen … dafür ist es zu spät.«
    Dazu sagte ich nichts. Ich konzentrierte mich auf die Spur von gestern abend.
    »Heute habe ich etwas Seltsames beobachtet«, meinte Jennifer. Der Themenwechsel kam etwas abrupt. »Einen Mann, den ich nicht kannte. Ich habe ihn dort gesucht, wo Sie mich gefunden haben, aber er war weg.«
    Morpheus. Es konnte nur er gewesen sein. »Vielleicht war das ja der Liebhaber meiner blonden Frau.«
    Sie blickte mich scharf an. Es war das erste Mal, daß sie mich ansah, seit wir das Haus verlassen hatten. »Machen Sie sich über mich lustig?«
    »Nein. Vielleicht über eine Situation. Ich sehe immer wieder eine Frau, die kein anderer sieht. Zumindest gibt niemand zu, daß sie existiert. Und jetzt sehen Sie auch Gespenster.«
    »Ich habe ihn wirklich gesehen, Garrett.«
    »Habe ich gesagt, ich glaube Ihnen nicht?«
    »Aber Sie glauben mir doch nicht.«
    »Weder glaube ich und noch bezweifle ich es. Das oberste Gebot meines Jobs lautet: Keine Vorurteile.« Das zweite lautet: Denk dran, daß alle dich anlügen.
    Meine Antwort schien ihr zu genügen. Sie schwieg eine Weile.
    Wir kamen an die Stelle, an der Tyler gestorben war. Er lag nicht mehr dort. Genausowenig wie der Zombie. Ich ging umher und versuchte herauszufinden, was passiert war. Aber es gelang mir nicht. Hoffentlich hatten Peters und die anderen die Leichen eingesammelt. Das mußte ich überprüfen.
    Der eiskalte Wind brannte auf der Haut. Das Gras war braun, der Himmel grau, und davor drohte die finstere Villa der Stantnors wie eine Gewitterwolke, die mit Verzweiflung geladen war. Ich warf einen Blick auf den Obstgarten. Die kahlen Bäume schienen ihre Äste wie Arme in den Himmel zu strecken. Für die Bäume gab es einen Frühling, nicht aber für die Stantnors.
    »Tanzen Sie?« fragte ich Jennifer. Vielleicht konnten wir diesen düsteren Ort ja ein wenig aufheitern.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete sie beinah humorvoll. »Ich habe es noch nie ausprobiert.«
    »Heh! Wir machen ja Fortschritte. Als nächstes werden Sie noch lächeln.«
    Sie schwieg wieder eine halbe Minute, dann überrumpelte sie mich zum zweiten Mal. »Ich bin noch Jungfrau, Garrett.«
    Das war nicht unbedingt eine Überraschung. Irgendwie hatte ich mir das schon gedacht. Aber warum erzählte sie es mir?
    »Als Sie mich neulich erwischt haben, wie ich in Ihrer Tasche gewühlt hatte, dachte ich, Sie wären der Mann, der das ändern sollte. Aber das sind Sie nicht, oder?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Peters hat mich vor Ihnen gewarnt …«
    »Daß ich einen miesen Ruf habe? Vielleicht stimmt das. Aber so, wie die Dinge hier liegen, wäre es nicht richtig. Und es muß richtig sein, Jennifer.« Vorsicht, Garrett, schön vorsichtig. Die Hölle lauert hinter einer schönen Maske und so weiter. »Sie sollten es nicht tun, nur weil Sie keine Jungfrau mehr sein wollen. Sondern deshalb, weil Sie es tun wollen. Weil Sie mit jemand Besonderem zusammen sind und weil Sie etwas Besonderes mit ihm erleben möchten.«
    »Wenn ich eine Predigt hören will, gehe ich zu Kelle.«
    »Tut mir leid. Ich versuche Ihnen

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