Geisterstunde
Teil in mir ausgelöst worden war, der es nicht ertragen kann, Leute leiden zu sehen.
Vielleicht gibt es ja tatsächlich so etwas wie Karma. Unsere guten Taten werden belohnt. Es war nur eine Winzigkeit, aber hätte ich dem Impuls widerstanden, wäre ich jetzt vermutlich nicht mehr am Leben.
24. Kapitel
Wir standen da und sahen auf den Grabstein. »Wissen Sie viel über Ihre Mutter?«
»Nur das, was ich Ihnen erzählt habe. Das ist alles, was Kelle mir je verraten hat. Vater sagt nie etwas. Er hat alle rausgeworfen, nachdem sie gestorben ist, bis auf Kelle. Es gibt niemanden mehr, der mir was erzählen könnte.«
»Und was ist mit Ihren Großeltern?«
»Ich weiß nichts von ihnen. Großvater Stantnor ist gestorben, als ich noch ein Baby war. Meine Großmutter ist von uns gegangen, als mein Vater noch ein Junge war. Und von meinen Großeltern mütterlicherseits weiß ich nur, daß sie eine Sturmwächterin und er ein Feuerlord war. Kelle will mir nicht sagen, wie sie hießen. Ich glaube, es ist ihnen etwas zugestoßen, und sie will nicht, daß ich es erfahre.«
Ding Dong! Ein kleines Glöckchen läutete in meinem Kopf.
Eine bevorzugte Freizeitbeschäftigung unserer herrschenden Klasse sind Verschwörungen gegen den Thron. Obwohl schon lange nichts mehr passiert ist, haben wir Zeiten durchlebt, in denen wir Könige wie Unterwäsche gewechselt haben. Einmal hatten wir sogar drei in einem einzigen Jahr.
Als ich sieben oder acht war, hatte es ein großes Tohuwabohu gegeben. Es mußte ungefähr zu der Zeit gewesen sein, als Jennifer geboren wurde. Ein Mordanschlag war fehlgeschlagen. Es war ein heimtückisches Komplott gewesen, und der zum Opfer bestimmte Blaublütler war so verstimmt gewesen, daß er zu einem reinigenden Rundumschlag ausgeholt hatte. Nichts da mit Vergeben und Vergessen. Hälse wurden langgezogen. Köpfe und Körper gingen getrennte Wege. Überall im Königreich wurden Arme und Beine abgehackt und an verschiedenen Wegkreuzungen begraben. Mächtige Besitztümer wurden konfisziert. Damals war es sehr ungesund, mit einem der Verschwörer verwandt zu sein, sei die Verbindung auch noch so wäßrig.
Die Menschen aus meiner Schicht hatten ihren Spaß dabei zu beobachten, wie die herrschende Klasse ihrem Schwanz nachjagte und ihn sich in der Tür klemmte. Immer wenn so etwas passiert, hoffen alle, daß diese Brut sich gegenseitig ausradiert. Leider passiert das nie. Sie selektieren immer die dümmsten und unfähigsten Verschwörer als Sündenböcke und Opferlämmer aus.
Es dürfte nicht allzu schwierig sein, herauszufinden, wer ihre Großeltern waren. »Möchten Sie es wissen?« fragte ich. »Ist es wichtig für Sie?«
»Nein, jetzt nicht mehr. Mein Leben würde sich dadurch nicht ändern. Ich weiß nicht, ob es mich noch interessiert.« Sie schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort. »Ich habe davon geträumt, als ich noch klein war. Im Traum holten sie mich in ihren Palast. Ich war eine richtige Prinzessin. Sie hatten mich und meine Mutter hier vor unseren Feinden versteckt, aber dann war etwas passiert. Vielleicht hatten sie vergessen, wo sie uns versteckt hatten. Ich weiß es nicht. Ich habe nie herausgefunden, warum sie nicht gekommen sind. Ich habe nur immer so getan, als würden sie eines Tages vor der Tür stehen.«
Ein ganz normales, kindliches Gedankenspiel. »Es könnte trotzdem wahr sein, Jennifer. Damals war die politische Lage nicht besonders stabil. Es ist durchaus möglich, daß diese Ehe geschlossen wurde, um Ihre Mutter in Sicherheit zu bringen. Da Ihre Großeltern tot sind, ist Ihr Vater vielleicht der einzige Mensch, der noch weiß, wer Ihre Mutter war.«
»Sie machen Witze.«
»Nein. Ich war zwar noch jung, aber ich kann mich an diese Zeit erinnern. Irgend jemand hat versucht, den König zu töten. Man hat die Sache versaut. Und er ist übergeschnappt. Es sind eine Menge Leute gestorben, darunter viele, die mit der Verschwörung nichts zu tun hatten.« Manchmal muß man Notlügen erfinden. Es konnte nicht schaden, ihr ein Hintertürchen offenzulassen, so daß sie hoffen konnte, ihre Großeltern seien unschuldig in den Sturm geraten und untergegangen.
Sie lachte freudlos auf. »Wäre das nicht zu verrückt? Wenn meine Kinderträume wahr wären?«
»Ist es Ihnen immer noch gleichgültig?« Ich konnte herausfinden, wer ihre Großeltern waren. Dafür mußte ich nur in ein paar verstaubten Folianten blättern. Das wäre die Mühe wert, wenn ich dadurch Jennifers Leben
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