Gejagte Der Dämmerung -9-
beratschlagt, mit dem Hauptquartier umzuziehen.«
Lucans Blick wanderte von Tegan und Gideon zurück zu Archer. »Wir hatten gehofft, das tun zu können, aber derzeit dürfte es nicht machbar sein.«
»Warum nicht?«
Lucan zeigte auf die Entwürfe auf dem Tisch. »Die Pläne sind fast fertig, aber sie können nicht rechtzeitig umgesetzt werden, um uns derzeit wirklich weiterzuhelfen. Unsere einzige andere Alternative wäre, unsere Operation ins Ausland zu verlegen. Aber soweit wir wissen, konzentriert Dragos seine Operation auf Neuengland, da wäre es unklug, hier alle Zelte abzubrechen und ein paar tausend Meilen fortzurennen.«
»Was ist mit Maine?«
Lucan runzelte die Stirn. »Wir haben ein paar Hektar Land hier und dort, aber nichts, was als Basis für das ganze Hauptquartier geeignet wäre, auch nicht als Übergangslösung.«
»Ihr vielleicht nicht«, antwortete Archer langsam. »Aber zufällig habe ich genau das Richtige.«
11
Chase kam langsam zu sich, ein widerlich süßer, rauchiger Gestank stieg ihm in die Nase und riss ihn aus einem tiefen, traumlosen Schlaf.
Seine Augen wollten sich nicht öffnen. Sein Körper war träge, er lag bäuchlings auf einer kalten, harten Oberfläche ausgestreckt, und seine Glieder fühlten sich wie Blei an. Er stöhnte, seine Kehle war völlig ausgedörrt und sein Mund trocken und wattig. Mit großer Anstrengung gelang es ihm, ein Augenlid zu heben und in seine stinkende Umgebung zu spähen.
Er lag in einem alten Güterwaggon, der hier und da durchgerostet war, und durch die kleinen Löcher, die sich ins Metall gefressen hatten, drang von draußen gleißend helles Licht herein.
Tageslicht.
Lichtstrahlen fielen über seinem Kopf durch das durchgerostete Dach, das nur hier und da willkürlich mit Holzresten und Plastikplanen geflickt war. Nicht genug Schutz für ihn. Ein heller Sonnenfleck schien genau auf seinen nackten Handrücken und sengte ihm eine hässliche Brandwunde in die Haut – daher der Geruch, der ihn geweckt hatte.
»Scheiße.« Chase zog sich hoch und kroch hektisch auf allen vieren in eine schattige Ecke.
Da sah er, wo der andere üble Geruch im Güterwaggon herkam. Nahe der Stelle, wo er geschlafen hatte, lag ein toter Mensch. Sein Gesicht war vor Entsetzen verzerrt und gespenstisch weiß. Jemand hatte ihm den grünen Armeeparka von den Schultern gerissen, und seine Kehle war von Bisswunden übersät und an mehreren Stellen aufgerissen. In seiner Gier nach Nahrung hatte Chase den Mann praktisch zerfleischt.
Er erinnerte sich an seinen schrecklichen Durst. Er wusste noch, wie er in den von obdachlosen Junkies belegten Waggon geschlüpft war und wie sie beim Anblick seiner glühenden Augen und gebleckten Fänge schreiend davongerannt waren. Da hatte er sich den langsamsten der Gruppe geschnappt, das schwächste Tier der Herde gerissen.
Der große Mann hatte sich nach besten Kräften gewehrt, hatte aber keine Chance gehabt. Nichts hätte die tierhafte Gier stoppen können, die in Chase tobte, als er den Menschen auf den verdreckten Boden des Waggons geworfen und getrunken hatte.
Er hatte ihn ausgesaugt.
Ihn umgebracht.
Eine Welle der Scham überrollte Chase, als er sah, was er getan hatte. Er hatte eine Grenze überschritten, einen unabänderlichen Grundsatz der Stammesgesetze gebrochen. Er hatte gegen seinen eigenen Ehrenkodex verstoßen, an den er sich sein ganzes Leben lang so unerschütterlich geklammert hatte.
Und dann war da die Sache mit dem Orden. Er hatte sein Vertrauen verspielt. Als Dante und Kade ihn letzte Nacht entdeckt hatten und ihm in ihrer Besorgnis gefolgt waren, hatte er sich in den Schatten des alten Betriebsbahnhofs verkrochen wie Ungeziefer. Sie hatten gewusst, dass er da war, dass er seine Gabe einsetzte, um sich zu verstecken, und ihre Rufe absichtlich ignorierte. Wenn sie bisher noch an ihn geglaubt hatten, dann hatte er ihr Vertrauen in ihn endgültig zerstört, indem er sich geweigert hatte, ihnen entgegenzutreten.
Es tat ihm weh, sie auszuschließen, besonders Dante, aber es wäre noch schlimmer gewesen, sich vor einem seiner Brüder in diesem Zustand zu zeigen. Er hatte die ganze Nacht gejagt und schon einmal Nahrung zu sich genommen, aber sie hatte ihn nicht gesättigt. Sein Durst hatte ihn zum alten Industriegebiet am Flussufer getrieben, mitten in all das menschliche Elend, wo sich die Nutten und Junkies – Versager wie er selbst – herumtrieben. Sein Durst hatte keine Scham gekannt, nur noch Verlangen und
Weitere Kostenlose Bücher