Gejagte Der Dämmerung -9-
Dragos hatte sie ihren eigenen Sturm überstanden. Noch hatte er sie nicht besiegt, noch nicht gewonnen. Und solange sie lebte, würde ihm das auch nicht gelingen.
Sie konnte nur beten, dass ihr Sohn auch so widerstandsfähig war.
Hunter war es doch auch gelungen zu fliehen und ein neues Leben zu beginnen. Aber andererseits hatte Hunter den Orden gehabt, um ihm aus seiner früheren Existenz herauszuhelfen. Er hatte Mira gehabt, die den entscheidenden Hoffnungsschimmer in ihm geweckt hatte, dass es überhaupt eine Chance, einen Ausweg für ihn gab.
Was hatte ihr Sohn?
Er wusste nicht, dass es jemanden gab, der ihn liebte und befreien wollte. Er konnte nicht wissen, dass es Hoffnung für ihn gab, so klein sie auch war; dass jemand sich danach sehnte, ihn zu finden und ihm das Leben zu geben, das er verdiente.
Aber Corinne wusste nicht, wo ihr Sohn war, geschweige denn, ob er überhaupt gerettet werden konnte. Und dann waren da noch Hunter und der Orden. Für sie war ihr Sohn nur eine weitere von Dragos’ Tötungsmaschinen, die zu zerstören sie sich alle geschworen hatten – vor allem Hunter, der von allen am besten wusste, wie gefährlich die anderen seiner Spezies waren. Der Orden hatte Dragos und allen, die ihm dienten, den Krieg erklärt, und das aus gutem Grund. Sie würden ihr Kind als Feind betrachten.
Obwohl sie gar nicht daran denken wollte, machte ein entsetzter Teil von ihr sich Sorgen, dass sie damit womöglich recht hatten.
Corinne wischte sich mit dem Handrücken die feuchte Wange ab, als Hunter aus dem Haus nebenan kam. Er sah sie dort sitzen und stapfte zu ihr herüber, eine dunkle Silhouette gegen den schwachen Schein der aufziehenden Morgendämmerung. Seine großen schwarzen Kampfstiefel knirschten im schlammverkrusteten Gras, und bei jedem wiegenden Schritt seiner langen, muskulösen Beine flatterte sein Mantel wie ein schwarzes ledernes Segel hinter ihm her.
Beim Näherkommen machte er ein finsteres Gesicht. »Warum bist du aus dem Wagen gestiegen?«
Sie wischte hastig die letzte Träne fort. »Ich mag keine engen Räume. Außerdem war es eine lange Nacht, und ich bin müde.«
Er blieb vor ihr stehen und starrte fragend zu ihr hinunter. »Du weinst.«
»Nein.« Ihre Lüge war nicht sonderlich überzeugend, aber zu ihrer Erleichterung ging Hunter nicht weiter darauf ein. Er starrte auf ihren Mund, und sein Stirnrunzeln verstärkte sich.
»Deine Lippe blutet wieder.«
Instinktiv tastete sie mit der Zunge nach dem kleinen Riss, den der andere Killer ihr in der Nacht beigebracht hatte. Sie schmeckte Blut – nur einen Hauch, kein Grund zur Beunruhigung. Aber Hunters Augen waren immer noch auf sie gerichtet. Seine Pupillen zogen sich zusammen, und in seinen goldenen Iriskreisen blitzten bernsteinfarbene Lichtfunken auf.
»Die Morgendämmerung kommt«, sagte er, und seine Stimme war ein tiefes, heiseres Knurren. »Komm mit mir. Das Haus steht schon länger leer, als Unterschlupf ist es in Ordnung.«
Sie stand auf und folgte ihm. In dem verlassenen Haus roch es nach Schimmel und sauer nach Salzwasser und getrocknetem Schlamm. Hunter ging voran und zog die steifen Vorhänge zu, die immer noch über dem zerbrochenen Wohnzimmerfenster hingen. Über ihren Köpfen ließ ein Deckenventilator die hölzernen Flügel hängen wie eine umgedrehte Tulpe, völlig verquollen vom Hochwasser, das die ganze Gegend tagelang überschwemmt hatte.
Nur wenige Möbelstücke waren im Haus geblieben außer den zerschmetterten Erinnerungen, den abgeblätterten Tapeten und den staubbedeckten Trümmern, die den Boden übersäten. Hunter stieg darüber hinweg und suchte den besten Weg für sie. Er blieb vor einem offenen Durchgang in der Diele stehen und winkte ihr hineinzugehen.
»Ich habe da drin eine Ecke freigemacht, damit du dich eine Weile hinlegen kannst.«
Corinne ging zu ihm hinüber und schaute hinein. Der Fußboden war größtenteils freigefegt von der Dreckschicht, die das übrige Haus bedeckte. Eine dünne, schlammverkrustete Matratze war gegen die rückwärtige Wand gestellt worden, festgeklemmt hinter einer massiven, vom Sturm ruinierten Kommode.
Hunter zog seinen langen Ledermantel aus und breitete ihn in der Mitte des Zimmers auf dem gefegten Boden aus. »Für dich, zum Schlafen«, sagte er, als sie ihm einen fragenden Blick zuwarf.
»Und du?«
»Ich melde mich beim Orden zurück und halte dann im anderen Zimmer Wache, solange du schläfst.« Er drehte sich um und wollte an ihr vorbei in die
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