Gekapert
könnte mir vorstellen, daß viele der Flüchtlinge, die in der Stadt aufwuchsen, deshalb mit ihrem Leben unzufrieden sind und sich erwartungsvoll in der Fremde ins Abenteuer stürzen, weil sie zuviel ferngesehen haben und glauben, daß das Leben anderswo einfacher ist«, bemerkt Ahl.
»Was ist mit deinem Sohn, vor dem eine aussichtsreiche Zukunft lag? Hast du eine Ahnung, was ihn dazu veranlaßte, Minneapolis zu verlassen und in diese trostlose Gegend zu kommen?«
»Ich wünschte, ich wüßte es«, murmelt Ahl.
Sie erreichen eine weitere Enklave. Der Wind vom Meer frischt weiter auf, sie fahren an Männern vorbei, die im spärlichen Schatten der Bäume sitzen oder liegen und qaat kauen.
»Was sind das für Leute?« Ahl deutet auf eine Gruppe junger Männer, die halb liegen, halb sitzen, als wären sie sogar zum Aufrechtsitzen zu müde.
»Flüchtlinge, die das Warten erschöpft.«
»Worauf warten sie?«
Aber Fidno beantwortet Ahls Frage nicht. »Wir sind da«, sagt er und hält vor einem Metalltor, das von Bewaffneten in Khakiuniform bewacht wird. Ein junger Mann mit großen Augen und dünnem, halbwegs in Form getrimmtem Schnurrbart tritt auf sie zu. Fidno winkt grüßend und freudestrahlend erwidert der Mann den Gruß.
Ein Torflügel öffnet sich, und ein junger Mann kommt heraus, genau in dem Moment, in dem ein weiterer junger Mann, schmal der Kopf, riesig die Brille, aus dem Torhaus tritt und sich neben eine zweite Schranke stellt, die von Hand geöffnet werden muß. Der erste junge Mann nähert sich dem Wagen, um sich Ahl genauer anzusehen.
»Wir werden erwartet«, sagt Fidno.
Das Tor öffnet sich ganz und Fidno fährt an.
Das Gelände, auf dem die Villa steht, ist riesig und ringsum von einem hohen Zaun umgeben. Das auf dem Grundstück ziemlich weit hinten gelegene Haus ist zweistöckig, besitzt Fenstertüren und einen verglasten Balkon, der Platz für ausgelassene Partys bietet. Dahinter ist das Meer zu sehen. Ein schattenspendendes Sonnensegel reicht beinahe bis zum Tor. Fidno parkt, Ahl nimmt seine Laptoptasche und folgt ihm zu den beiden wartenden jungen Männern in Livree. Das ganze Gebäude macht einen neuen und soliden Eindruck; das Geländer des oberen Stockwerks glänzt frisch gestrichen. Von der Rückseite ertönt das laute Brummen eines Hochleistungsgenerators.
Hier herrscht Ordnung, die Ordnung eines durch Gewalt an die Macht gekommenen korrupten Despoten, findet Ahl. Einer der Livrierten führt sie gemessenen Schrittes zum Haus. Er klopft rhythmisch an die Tür, wahrscheinlich ein Code. Die Tür geht auf, Fidno und Ahl treten ein, der junge Mann in Livree bleibt mit einer Verbeugung zurück.
»Herzlich willkommen, AhlulKhair. Ich bin Ihr Gastgeber.«
Die Stimme hat etwas Gebieterisches an sich: distanziert, bestimmt. Sie gehört einem kleinen, schmalen Mann fortgeschrittenen Alters mit angegrautem Bart und durchdringenden Augen, der auf einem hohen Stuhl sitzt. Höchst merkwürdig, daß ein so kleiner Mann, beinahe ein Zwerg, über eine derart gebieterische Stimme verfügt. Er kann nicht größer als 1,20 Meter sein. Er erinnert Ahl an Kaiser Haile Selassie, und deshalb erwartet er, auch auf Namenlos’ Schoß einen herrischen Chihuahua hocken zu sehen. Ahl fragt sich, ob Namenlos verkrüppelt ist.
»Wie steht’s denn so?« fragt er Ahl mit überraschender Vertraulichkeit.
»Soweit alles in Ordnung«, sagt Ahl, auch wenn ihm innerlich ganz anders zumute ist.
»Und bei dir, Fidno?« fragt Namenlos, seine Stimme klingt einen Hauch autoritärer, volltönender.
»Alles planmäßig«, antwortet Fidno.
»Hervorragend.«
»Und wie geht’s dir?« will Fidno wissen.
Namenlos wirkt leicht beleidigt. »Läßt du meinen Gast und mich ein paar Minuten allein? Du kannst zu den anderen nach draußen gehen. Du kennst dich ja aus.«
Namenlos gibt hier den Ton an und erwartet, daß man ihm gehorcht. Fidno verabschiedet sich. »Danke, daß du meinen Freund empfängst«, sagt er.
»Wir reden später mit dir.« Ahl registriert den Pluralis majestatis.
Fidno öffnet die Tür, und die helle Mittagssonne strömt in den Saal. Erneut fragt sich Ahl, ob es richtig ist, sich mit Kriminellen einzulassen.
Er tritt näher, und Namenlos legt die Stirn in Falten, wie jemand, der normalerweise eine Brille trägt. Ganz offensichtlich ist er es nicht gewohnt, daß jemand etwas ohne seine Anweisung tut. Je näher Ahl dem hohen Stuhl kommt, desto seltsamer sieht alles aus, beinahe lächerlich.
»Bitte setzen
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