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Gekapert

Titel: Gekapert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nuruddin Farah
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wendet dann und fährt an der Stelle des Beinaheunfalls an den Straßenrand. Sie greift in ihre Handtasche, holt diesmal ein dickes Geldbündel heraus, und bevor Ahl etwas sagen oder unternehmen kann, öffnet sie die Tür und stürzt auf den Fußgänger zu, der mittlerweile am Straßenrand geht, und entschuldigt sich. Der Mann ist gleichfalls peinlich berührt und ist offensichtlich der Meinung, daß er genauso Schuld trägt wie sie, denn anfänglich weigert er sich, das Geld zu nehmen. Da sie aber darauf besteht, nimmt er es schließlich, nimmt das Geschenk mit beiden Händen, zeigt sich dankbar für den unerwarteten Geldsegen.
    Ahl denkt über den Vogel nach. Eine Erscheinung? Er hat das Gefühl, daß sich alles zusammenfügt, begreift den Vogel und seine Darbietung als Boten für Taxliils baldige Ankunft. Er wird Xalan nichts davon sagen, will weder falsch verstanden werden noch das Schicksal versuchen.
    Xalan kehrt zum Auto zurück, setzt sich hinters Steuer und murmelt etwas von »werde irre«. Ahl tätschelt ihr Handgelenk, wie um ihr zu versichern, daß schon alles in Ordnung kommen wird. Ihr Griff um das Lenkrad lockert sich zwar, aber sie bewegt sich nicht, braucht noch etwas Zeit, um sich völlig zu sammeln.
    »Im einen Moment geht es mir absolut gut, ich fühle mich wohl mit mir, und im nächsten Augenblick drehe ich beinahe durch«, sagt sie.
    Sie läßt den Motor an, fährt einige Zeit schweigend, hält dann vor einem Tor und hupt. Ein Mann im Tarnanzug öffnet das Tor. Als sie anfährt, hat sich ihre Persönlichkeit wieder verändert: Nun ist sie eine Frau, die das Sagen hat. Sie weist den Mann im Tarnanzug an, Ahls Koffer und Laptoptasche hineinzutragen, ruft das Dienstmädchen, will wissen, ob das für Ahl vorgesehene Zimmer sofort bezogen werden kann.
    Im Gästezimmer schaut Ahl auf sein Handy. Drei entgangene Anrufe von Fidno und zwei von einem unbekannten Anrufer. Was bedeuten diese Anrufe? In seinem Kopf verankert er den Gedanken, daß er versuchen wird, Taxliil vor seiner eigenen Dummheit zu bewahren, was auch geschehen mag. Welchen anderen Grund gäbe es sonst für diese Wahnsinnsreise?
    Sein unterdrücktes Niesen hört sich an wie eine Katze, der eine Gräte im Hals steckt. Mit dem Handrücken wischt er sich die Feuchtigkeit vom Mund, schnieft wie ein Mann, dem die soeben geschnupfte Prise nicht gut bekommen ist. Er rezitiert im Stillen eine seiner Lieblingsgedichtzeilen, um die Angstwellen fernzuhalten, die ihn zu verschlingen drohen: »Ich bin, was um mich herum ist«.
    Er packt aus und setzt sich auf den Bettrand, wiederholt die Zeile mehrmals. Ist das Gedicht von Wallace Stevens oder Robert Frost? Was umgibt ihn, außer dem Elend eines niedergeschlagenen Volks? Wie ein Bestatter, der die Größe eines Sargs abmißt, geht er im Zimmer auf und ab, aber er bringt es nicht über sich, Fidno anzurufen, aus Furcht, mit schlechten Nachrichten konfrontiert zu werden. Wieder denkt er an den Vogel, der auf seiner Seite des Autos mitgeflogen war, und noch immer ist er unsicher, ob er ein Vorbote des Guten oder des Bösen ist.
    Es klopft laut an die Tür, zuerst antwortet er nicht, immer noch gefesselt von düsteren Vorahnungen. Dann hört er Xalan sagen: »Essen steht auf dem Tisch.«
    Er setzt sich zu ihr ins Eßzimmer, nicht um etwas zu essen, sondern um ihr Gesellschaft zu leisten, eine schlichte Geste des guten Willens. Er wünscht, er könnte das Thema auf ihren verschwundenen Neffen bringen, Ahmed-Rashid, will sie aber nicht beunruhigen. Trotzdem findet er es seltsam, daß sie ihn nicht erwähnt hat, selbst dann nicht, als sie sich über Taxliils Verschwinden unterhielten.
    »Wo ist Warsame heute?« fragt er.
    »Bei einem Freund, qaat kauen«, antwortet sie. Vor Ahl steht ein Glas Grapefruitsaft. Er nimmt einen Schluck, sagt aber, daß er nichts essen kann, weil sein Magen durcheinander ist. Zum Beweis drückt er auf seinen Magen, der gräßliche Geräusche von sich gibt. Xalan ist amüsiert und lacht.
    »Du hast seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.«
    »Später vielleicht«, sagt er.
    »Vielleicht bekommt das Wasser hier deinem Magen nicht«, sagt sie. »Möchtest du ein Glas Mineralwasser?«
    »Ich habe keine Probleme mit dem Wasser«, sagt er.
    »Dann trinken wir Tee.«
    Sie weist die Haushälterin an, Tee für drei zuzubereiten. Tee für drei? Wer soll der dritte sein? Wieder drängelt sich eine Gedichtzeile in seine Gedanken, diesmal von T.S. Eliot: »Wer ist der Dritte, der dir immer

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