Gekapert
zur Seite geht?«. Ahl rezitiert das Gedicht stumm weiter, läßt sich von ihm fesseln, vertreibt damit seine sorgenvollen Gedanken. Eigenartig und interessant zugleich, daß Xalan ihm nicht mitgeteilt hat, wer der dritte sein wird. Er wird sie jedoch nicht ausfragen, das wäre schlechtes Benehmen. Er meint zu spüren, daß sich etwas Außergewöhnliches ereignet, etwas höchst Wichtiges, höchst Hilfreiches. Erst ein geheimnisvoller Vogel und jetzt ein geheimnisvoller Dritter. Ahls Herz schlägt heftig, weniger furchtsam als erwartungsvoll.
Wie aufs Stichwort hämmert es ans Tor, und man hört, wie es geöffnet und geschlossen wird. Ahl wartet und betrachtet währenddessen einen Fleck an der Decke; er vermeidet es, Xalan in die Augen zu sehen. Der Besucher, ein junger Mann, kommt herein. Xalan springt auf und umarmt ihn, als wäre er der lang verloren geglaubte Sohn. Sie vergießt Freudentränen. Dann umarmt der Besucher Ahl.
Er ist ein paar Jahre älter als Taxliil, groß und hager, das Gesicht beträchtlich behaart. Seine Bewegungen sind die eines Menschen auf der Flucht, in seinen Augen liegt ungezähmte Wildheit. Trotz der Fröhlichkeit, die sein Gesicht zeigt, riecht man förmlich seine Angst. Seine Unruhe ist greifbar.
Beim Anblick der beiden, die einander in den Armen liegen, treten Ahl die Tränen in die Augen. In seiner Erinnerung sieht er den kleinen Taxliil schlafend in seinen Armen liegen. Er ist völlig durcheinander, so durcheinander, daß er überlegt, ob dieser junge Mann irrtümlicherweise entweder von Fidno oder Namenlos gesandt worden ist, die ihren Teil der Abmachung einhalten wollen. Und da er sich weder für das eine noch das andere entscheiden kann, wartet er hoffnungsvoll darauf, daß in diesem Kuddelmuddel ein Muster erkennbar wird.
Er sieht, wie Xalan den Gast beim Handgelenk gepackt hat, als könnte er davonrennen. Sie zieht ihn mit sich, umklammert seinen Ellbogen.
Ahl kann sich nicht länger zurückhalten und bestürmt Xalan mit Fragen. Wer ist dieser junge Mann, woher kommt er, und warum freut sich Xalan so, ihn zu begrüßen?
»Er heißt Ahmed. Ahmed-Rashid. Er ist mein Neffe«, sagt Xalan.
Der junge Mann weicht zurück, als wäre er gekränkt, hält Abstand von Xalan. »Ich heiße nicht mehr Ahmed, schon lange nicht mehr.«
»Wie heißt du dann?« fragt Ahl.
»Saifullah«, antwortet der junge Mann.
Da wird Ahl klar, was dieser junge Mann wirklich ist: ein religiöser Fanatiker mit einer Vision.
»Ist Saifullah dein Kampfname?« fragt er.
Saifullah nickt. »Ich bin nicht mehr der Mensch, der ich früher mal war.«
»Wie bist du hierhergekommen?«
»Ich bin inkognito gereist«, sagt Saifullah.
»Von woher kommst du?«
»Von irgendwoher.«
Saifullahs ausweichende Art läßt bei Ahl die Alarmglocken läuten.
»Und wohin gehst du?«
»Meinem himmlischen Schicksal entgegen.«
Erneut zeigt sich Angst auf Xalans Gesicht. Ihr Blick wandert von Ahl zu Saifullah. Dann umschlingt sie Saifullah abermals, umarmt ihn, als wäre er ihr Geliebter, der zu einer beschwerlichen Reise aufbricht, von der er vielleicht nicht wiederkehrt. Weinend hängt sie sich an ihn.
»Weiß meine Schwester, daß du hier bist?«
»Meine Mutter weiß alles«, sagt Saifullah.
Xalan hört auf zu schluchzen. Sie fährt sich übers Gesicht, wischt sich die Tränen fort. Dann läßt sie ihn los, schnieft und setzt sich hin. »Wie hat sie reagiert?«
»Du weißt doch, wie sie ist.«
»Erzähl mir, wie sie ist«, Xalans Stimme klingt hart. »Wir haben uns sehr, sehr lange Zeit nicht gesehen.«
Ahl macht Anstalten zu gehen, damit sie unter sich sein können, Xalan bedeutet ihm jedoch zu bleiben. »Erzähl mir, wie deine Mutter jetzt ist. Ich kenne sie als gläubige Frau, die zurückgezogen und gottesfürchtig lebt. Aber wie steht sie zu deiner Entscheidung, daß du deinem himmlischen Schicksal entgegengehst?«
»Das wirst du sie leider selber fragen müssen.«
»Sie ist damit nicht einverstanden, stimmt’s?«
»Sie soll dir am besten selbst sagen, was sie davon hält.«
Ahl spürt, dies ist der Moment, die Frage zu stellen, die ihm auf den Nägeln brennt. »Kennst du zufällig meinen Sohn Taxliil?«
Saifullah starrt Ahl an, anscheinend paßt ihm die Unterbrechung nicht. Er blickt zu Xalan, aber sie wendet den Blick ab und sieht zu Boden.
»Ja, ich kenne Taxliil«, rückt Saifullah dann heraus.
Über das Eingeständnis ist Ahl eher erschrocken als erleichtert, er bringt kein Wort heraus.
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