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Gekapert

Titel: Gekapert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nuruddin Farah
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belauschen und in der Öffentlichkeit in ihre Privatsphäre eindringen zu können. Schließlich bietet der Mob Anonymität.
    »Für sie ist es wie Theater«, sagt Qasiir, »bedauerlicherweise ist das ihre Art, ein bißchen Spaß zu haben. Und es ist Teil der politischen Schaukämpfe, die bis ins kleinste ­Detail von Sympathisanten der Aufständischen inszeniert sind, um die Übergangsregierung zu demütigen.«
    »Warst du dabei, als 1993 der Leichnam des toten Ma­rines geschändet wurde?« fragt Malik.
    Qasiir antwortet nicht sofort.
    »Ich weiß, daß deine Schwester beinahe von einem Hubschrauber getötet wurde und sie seitdem taub und traumatisiert ist. Aber hast du dich an diesem Akt der Selbsterniedrigung beteiligt oder nicht?«
    »Opa Dajaal verbot mir mitzumachen«, sagt Qasiir schließlich.
    »Hättest du dich sonst deinen Kumpels angeschlossen?«
    »Ja«, sagt Qasiir, »sonst hätte ich mich meinen Kumpels angeschlossen.«
    »Das hätte ich nicht von dir gedacht.«
    »So wie es damals aussah, war es Teil einer politischen Solidaritätskundgebung, gedacht für die Allgemeinheit, wesentlicher Bestandteil einer Aufführung. Alles einstudiert, jedes kleinste Detail war geplant«, erklärt Qasiir und ergänzt nach einer kleinen Pause: »Ich war jung und naiv.«
    »Ich war selbst auf vielen dieser abgekarteten Pseudodemonstrationen in Pakistan, in Indien, in Afghanistan«, sagt Malik. »Am Anfang wirken sie echt. Für mich hat die Darbietung, die wir gerade gesehen haben, etwas Einstudiertes an sich. Obwohl viele ausländische Journalisten auf diese Geschichten reinfallen.«
    »Wie professionelle Klageweiber«, bemerkt Qasiir.
    »Alles hat wohl seinen Preis«, sagt Malik.
    Er ruft sich die Namen der Großen seines Gewerbes ins Gedächtnis, die Namen von Journalisten und Schriftstellern, die sich in die Abgründe des Universums vertieft hatten und mit Beute zurückkehrten. Hoffentlich kann er in seinem Artikel beschreiben, wie es ist, der ungefilterten, unverstellten Wut ins Auge zu blicken. Je tiefer er in das ­Allerheiligste des Marktes eindringt, das ihm bisher als Außenstehendem verwehrt war, desto schwerer wird ihm jedoch das Herz. Qasiir, Malik dicht auf den Fersen, klatscht einen Kumpel ab, der gemeinsam mit ihm gekämpft hat, gibt einem ehemaligen Mitmilizionär, der dafür sorgt, daß die Demonstration nicht aus dem Ruder läuft und der Aufruhr sich in Grenzen hält, das Daumen-hoch-Zeichen.
    Der Rauch von brennendem Abfall bringt Malik zum Husten. Dann richtet sich ihre Aufmerksamkeit auf einen Kreis von Jugendlichen, die klatschen, tanzen und Protestgesänge intonieren, in denen immer wieder die Wörter Äthiopien, Amerika, Christen, Ungläubige, Abtrünnige, Verräter auftauchen. Als Qasiir ein paar Jugendliche fotografiert, die sich für ihn in Pose werfen – die Atmosphäre ist festlich, die Stimmung vergnügt –, stellt Malik entsetzt fest, daß sie auf einem uniformierten Leichnam herumtrampeln.
    Diese Begebenheit markiert für Malik den Punkt in der Geschichte eines Volkes, an dem sektiererische Wut als nationale Panik verstanden werden kann. Ein Teil der Somalier, ein repräsentativer Teil zudem, hat seine Mitgliedschaft in der menschlichen Rasse vorübergehend ausgesetzt, denn dieses Verhalten ist inakzeptabel, man schändet keine Toten. Wenn man sich seine Menschenwürde bewahren möchte, macht man kein Gotteshaus dem Erdboden gleich, entweiht Friedhöfe, zerrt Leichen durch den Schmutz oder versetzt ihnen, während man um sie herumtanzt, Fußtritte. Die Wut, die einen bestimmten Teil der Bevölkerung zu solchen Taten anstachelt, ist verständlich, eine Wut, die sich aus all den Toten, allen durch äthiopische Hand erlittenen Demütigungen speist. Aber dennoch verurteilt Malik ihr Verhalten, weil es sowohl somalischer als auch muslimischer Tradition zuwiderläuft und von einem normalen, zivilisierten Verhalten abweicht.
    Er geht weiter, zu beschämt, sich seine Angst einzugestehen, voller Mitleid für den im Krieg getöteten Äthiopier, der in einem Land ums Leben kam, über das er bis zum Augenblick seines Todes wahrscheinlich nicht sehr viel wußte. Auch mit den somalischen Jugendlichen, die den toten Äthiopier mit Füßen treten, hat er Mitleid, eine ungebildete, schlecht informierte Bande, denen Respekt vor Toten so fremd ist wie der Islam. Schuld ist der Bürgerkrieg, in dem diese Jugendlichen nicht zur Schule gingen, kein funktionierendes harmonisches Zuhause hatten. Schuld ist auch

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