Gekapert
weiß, daß er sich weder zum guten Samariter eignet noch zum Leiter der Telefonseelsorge. Er hat keine Ahnung, wie er mit einer derart aus dem Ruder gelaufenen Situation umgehen soll. Ihm gelingt es nicht, Ahl aus seiner Verzweiflung zu reißen, und er kann nur hoffen, daß dieser nichts überstürzt.
»Was schlagen Xalan und Warsame vor?«
»Ich soll warten, bis er sich bei mir meldet«, sagt Ahl.
»Wo sind sie jetzt? Kann ich mit ihnen reden?«
»Sie sind in ihrem Zimmer und schlafen.«
»Warum machst du das nicht auch, schlaf dich einfach mal richtig aus«, meint Malik, »leg das Handy neben dich, so daß du sofort rangehen kannst, wenn es klingelt. Ich werde mir in der Zwischenzeit etwas einfallen lassen und dich dann anrufen.«
»Vielleicht mach ich das«, sagt Ahl, »einfach nur schlafen.«
»Bis später dann.«
Malik seufzt, legt das Handy auf den Tisch, da klingelt es schon wieder. Qasiir ist dran. »Onkel Liibaan und ich stehen unten auf dem Parkplatz, würdest du zu uns runterkommen?«
Malik ist kurz verwirrt, dann fällt ihm ein, daß Liibaan gemeinsam mit Dajaal in der Armee gedient hat, daher die Bezeichnung »Onkel«. »Kommt doch bitte rauf«, sagt er und schiebt die Metallplatte zurück, die die Wohnungstür sichert.
Qasiir kommt als erster herein, und sie begrüßen sich flüchtig. Dann machen sie Platz für einen großen Mann, der einen Kugelbauch vor sich herträgt, seine in Flipflops steckenden Füße scheinen zu klein für sein Gewicht, das Haar auf seinem Kinn ist so mickrig wie der Bart eines Sechzehnjährigen, und wenn er sich konzentriert, verengen sich seine Augen zu schmalen Schlitzen
Malik verschwindet mit den Worten »Ich mache uns Tee«, Qasiir nimmt die Rolle des Gastgebers ein und führt Liibaan ins Wohnzimmer, wo sie sich hinsetzen. Sobald er Teewasser aufgesetzt hat, gesellt sich Malik zu ihnen. Offensichtlich fühlt sich Liibaan wohl genug, um seine Flipflops abzustreifen, und Malik fällt auf, daß die Zehennägel des Mannes gefährliche Waffen sind, lang, mit gezackten Rändern.
»Ich freue mich über unser Treffen, Liibaan.«
Liibaan schweigt, sagt dann: »Dajaals Ermordung betrübt mich sehr. Er bedeutete mir sehr viel, war wie ein Bruder für mich. Er war älter als ich, hatte einen höheren Rang. Ein ernster, redlicher Mann, der von allen, die ihn kannten, bewundert wurde. Wir verehrten ihn alle. Möge Gott seine Seele segnen.«
Malik stimmt in das »Amen« ein.
Der Kessel pfeift, und Malik steht auf, erleichtert, dem Gespräch zu entkommen. Er fragt seinen Gast, wie er seinen Tee gerne hätte.
»Vier Stück Zucker und viel, viel Milch«, sagt Liibaan.
»Komm bitte mal für einen Moment in die Küche«, sagt Malik zu Qasiir, »ich möchte, daß du etwas für mich tust.«
Malik holt Tassen, Untertassen, Kekse und Knabberzeug heraus. Dann hängt er zwei Teebeutel in die Kanne und gießt Wasser auf. Qasiir sieht zu und wartet schweigend, ihm fällt auf, daß Malik nur für zwei Personen gedeckt hat.
»Ich würde das Interview gern unter vier Augen führen«, sagt Malik.
»Klar doch.«
Malik geht ins Arbeitszimmer und kommt mit seinem Aufnahmegerät zurück. »Gib uns eineinhalb Stunden.«
»Okay«, sagt Qasiir, »bis in anderthalb Stunden dann, es sei denn, ich höre vorher von dir.« Er verabschiedet sich von Liibaan.
Liibaan kommt Maliks Bitte nach und gibt ihm einen kurzen Abriß seiner Biographie. »Ich wurde in Jalalaqsi geboren und wuchs in Beledweyne auf, besuchte aber in Mogadischu die Oberschule. Dann wurde ich als Unteroffizier in die Armee eingezogen. Ein Jahr später wurde ich nach Odessa geschickt und machte bei der Panzereinheit eine Ausbildung zum Mechaniker. Ich kam als Leutnant zurück und wurde bald darauf in den Ogadenkrieg geschickt, Dajaal war mein vorgesetzter Offizier. Bis zum Zusammenbruch des Staates diente ich in der Armee und stieg dann, weil ich keine andere Chance hatte, mit einigen Kumpels ins Import-Export-Geschäft ein. Zur Zeit betreibe ich eine Busflotte für ein Unternehmen mit weitreichenden Aktivitäten und sorge für deren Sicherheit. Damit verdiene ich jetzt meine Lebensunterhalt.«
»Wie sorgt man für die Sicherheit einer Busflotte?« fragt Malik.
»Ich habe drei Dutzend Jugendliche angestellt«, erklärt Liibaan, »die pro Bus zu dritt oder viert als bewaffneter Begleitschutz mitfahren.«
»Fährst du manchmal auch selbst mit?«
»Seit kurzem wohne ich in einem Dorf in der Nähe der somalisch-kenianischen
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