Gekapert
auftauchten, gehörten unkonventionelle Sprengvorrichtungen nicht zu den Erkennungszeichen der bewaffneten Konfliktparteien in Somalia. Man hörte von zwei Männern auf einem Motorrad oder zwei, drei, die zu Fuß unterwegs waren und Gesichtsmasken trugen, sich mit Pistolen bewaffnet hinter einer Straßenkurve versteckten und darauf warteten, daß ihre Opfer aus der Moschee kamen oder aus dem Auto stiegen. Dann brausten die Mörder auf ihrem Motorrad davon oder rannten fort, ohne daß man sie erkannt hätte. Seit kurzem jedoch gehören diese Sprengsätze zur beliebten Vorgehensweise der Aufständischen. Sie beobachten ihre Opfer und legen die spezialangefertigten Sprengkörper so ab, daß sie via Fernsteuerung einen Regierungsbeamten im Auto, ein äthiopisches Bataillon oder Journalisten abschießen können.
Malik entwirft noch eine SMS an Ahl, teilt seinem Bruder mit, daß er Opfer einer derartigen Vorrichtung geworden ist, aber Gott sei Dank noch lebt. Wieder hört er die Explosion, sieht den aufsteigenden Rauch, riecht das Pulver und spürt in seinem Körper die Detonation der Bombe. Da und dort hat er blaue Flecken und Kratzer sowie eine Gehirnerschütterung. Allmählich hat er das Gefühl, wieder ein paar Glieder rühren zu können. Wie zum Beweis bewegt er ein Bein. Leider gehorcht das Bein nicht. Was ist mit seinem Arm? Sein Arm ist weitaus gehorsamer, vielleicht auch, weil er nicht eingeklemmt ist, anders als sein Bein, das sich unter seinem Körper befindet. Irgendwie ist sein Hals verdreht und der Hinterkopf ist naß, obwohl er nicht sagen kann, ob es Blut ist oder bloß Wasser. Er versucht das Knie zu beugen und streckt das Bein trotz des Widerstandes aus. Dann öffnet er die Augen, schließt sie aber gleich wieder.
Die Vorrichtung, die das Fahrzeug mit Malik und seinen Journalistenkollegen in die Luft gejagt hat, kostete drei von ihnen das Leben. Malik hatte es vorgezogen, mit den anderen Journalisten zu fahren, statt mit Qasiir. Er spielt in seiner Erinnerung die Explosion nochmals durch, ist sich nicht sicher, ob die Reifen des zwölfsitzigen Minibusses geplatzt sind oder ob er von einem Motorrad beschossen wurde. Jedenfalls spürte Malik, wie sich das Fahrzeug, statt wie ein geplatzter Ball in sich zusammenzufallen, vom Boden hob, gerade, als einer der Journalisten, der jetzt tot ist, die Mitglieder der Al-Schabaab als Männer bezeichnete, »denen es an logischem Denken, politischem Scharfsinn mangelt und die für ihre Doppelzüngigkeit berüchtigt sind«. Alle, einschließlich des Fahrers, der jetzt ebenfalls tot ist, taten ihre Meinung kund, bis sich die Splittergranate einmischte und ihre lebhafte Diskussion umgehend in Dunkelheit erstickte.
Selbst als sein Kopf gegen den Vordersitz knallte, sträubte sich Malik, in das klaffende Halbdunkel zu fallen, Amrans Worte im Ohr - »ich möchte keine Waise großziehen«. Seine kurze Betäubung wurde durch eine verstörende Stille abgelöst und dann hörte er jemanden in der Nähe vor Schmerzen schreien, und jemand flehte um Hilfe, sagte: »Ich bin verletzt, ganz schlimm verletzt.« Dann ein Geräusch, als würde eine Ziege geschlachtet.
Seine Gehirnerschütterung ist harmlos, sein Gedächtnis nicht in Mitleidenschaft gezogen, alle Reflexe funktionieren relativ gut. Aber er ist nicht richtig anwesend. Dennoch ist er munter genug, um sich an das somalische Gerücht zu erinnern, daß die Toten kurz nach dem Tod noch alles hörten, sie könnten sogar die Stimmen von Verwandten und Freunden erkennen, die an ihrer Beisetzung teilnehmen. Malik lebt, auch wenn er nicht anwesend ist. Er tut, was man für gewöhnlich bei einer Gehirnerschütterung macht, er stellt sich einfache Fragen: sein Name, der Name seiner Frau, der Name seines Bruder, sein Geburtsdatum und wo er sich gerade befindet. Er ist Fragesteller und Befragter zugleich. Erst als er den Test bestanden hat, öffnet er die Augen wieder. Um den Wagen hat sich eine Menge versammelt, manche helfen, manche gaffen nur.
Auf seiner Stirn befindet sich eine Beule von der Größe und Form eines Golfballs. Er hat Schmerzen in der Brust, auf seiner Kleidung ist fremdes Blut. Oberhalb seiner Leiste noch mehr Blut. Durch den Riß in seiner Hose ertastet er einen Glassplitter.
Er hört Qasiir fragen: »Kannst du mich hören, Malik?« Dann spürt er, wie ihn jemand aus dem Wagen zieht, so wie man ein schlafendes Kind aus einem Auto hebt.
»Mir geht’s gut«, sagt er.
»Hier, nimm meine Hand«, sagt Qasiir.
Malik
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