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Gekapert

Titel: Gekapert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nuruddin Farah
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seine sozialistischen Ideale auf die gleiche Weise durch wie Vollbart, dem der Islam als heiliges Mantra dient, als Leitstern, der ihm den Weg zur göttlichen Autorität leuchtet. Am Schluß bekam Caloosha, was er verdient hatte und starb einen elenden Tod. Wann wird wohl Vollbart seine Quittung bekommen, fragt sich Jeebleh, seine wohlverdiente Strafe.
    Zeit, Tee zu machen. Langsam greift Jeebleh nach dem Metallkessel, macht sich nicht die Mühe, den Deckel abzunehmen, läßt das Wasser durch die Tülle einlaufen. Da überkommt ihn eine angenehme Erinnerung an das Wochenende, an dem er ein Foto von seiner Enkelin machte, jenes Foto, das Malik als Bildschirmschoner diente, bis Vollbart es zur Pornographie erklärte. Leider schützt Unschuld nicht vor einem sexbesessenen Vollbart. Es war das Wochenende vor seiner Abreise gewesen, und die gesamte Familie fuhr mit einem Mietwagen nach Port Jefferson auf Long Island. Auf der Rückfahrt machten sie einen Umweg, hielten am Nordufer des Lake Superior und aßen dort zu Mittag. Er erinnert sich, wie seine Enkelin vom Sand fasziniert war und sich damit den Mund vollstopfte.
    Er sollte zu Hause anrufen, und dieser Gedanke führt zu einer weiteren Erinnerung, an das erste Telefonat mit seiner Frau bei seinem vorigen Aufenthalt. Ein Mann kam mit einem tragbaren Gerät, das größer als ein Laptop war, in sein Zimmer. Jeebleh fand weder heraus, wie der Apparat funktionierte noch wie er ihn am besten beschreiben sollte. Aber er ermöglichte es ihm, mit seiner Frau zu sprechen, und das zählte. Bisher haben er und Malik ihren Frauen jeweils nur SMS geschickt, um mitzuteilen, daß sie angekommen sind. Malik befürchtet, daß Amran ihn zur Abreise drängen könnte, wenn er ihr alles erzählt. Zudem hat noch keiner von ihnen die passenden Worte gefunden, um Vollbarts verdorbene Gedankenwelt zu beschreiben. Zweifellos hat sich das Auf-der-Hut-Sein auf ihr Denken ausgewirkt, sie verwirrt. Positiv ist allerdings, daß Jeebleh und Malik bisher höchst harmonisch miteinander umgegangen sind; das ist eine große Erleichterung.
    Eine Viertelstunde später kommt Malik aus seinem Zimmer, flucht und kratzt sich heftig. Die Adern auf seinen Lidern wirken dunkler, die Augen sind blutunterlaufen; die Haut ist aufgerissen und näßt an einigen Stellen.
    »Es juckt mich überall und meine Augen brennen«, sagt er.
    Jeebleh versucht, ihn bei Laune zu halten. »Jucken ist menschlich.«
    »Ich habe geträumt, daß es mich juckt, und als ich aufgewacht bin, juckte es mich.«
    »Laß mich mal sehen.« Jeebleh kann keinerlei Mückenstiche oder ähnliches erkennen.
    »Ich habe von Ausschlägen geträumt, hatte einen wahren Allergienachtmahr. Im Traum bekam ich ein Ekzem, es fühlte sich an, als ob man mich mißhandeln, mißbrauchen würde. Je heftiger sich der Traum in meine Gedanken bohrte, desto heftiger habe ich gekratzt.«
    »Eventuell eine allergische Reaktion auf etwas, das du gegessen hast?«
    »Glaube ich nicht.«
    »Wanzen vielleicht?«
    »Ich habe das Licht angeschaltet und nichts gefunden.«
    »Wanzen schlagen heimlich zu und verstecken sich dann.«
    »Ich habe das komplette Bett umgedreht«, sagt Malik. »Keine Wanzen.«
    Verlegen sieht er zur Seite, schweigt. Er untersucht seinen Arm auf Beulen, Wunden und Schwellungen, die von Stichen herrühren könnten, findet aber kaum etwas, das er Jeebleh zeigen könnte, wie man etwa eine Trophäe präsentieren würde. Verwundert schüttelt er den Kopf.
    »Kann es sein, daß Gumaad dir da einen Floh ins Ohr gesetzt hat?«
    »Wie meinst du das?«
    »Weil Gumaad die abwertende Bezeichnung injirray erklärt hat, mit der die Somalier die Äthiopier bedenken. Vielleicht rührt daher deine fixe Idee mit dem Jucken.«
    »Warum spielen die Somalier auf Läuse an, wenn es um Äthiopien geht?«
    »Ach, weißt du, die Äthiopier, die die Somalier hauptsächlich kennen, sind die schlechtbezahlten, in Lumpen gekleideten, barfüßigen Soldaten auf den abgelegenen Stützpunkten des Imperiums im somalischsprachigen Ogaden. Sie wuschen sich nicht, trugen wochenlang dieselbe Uniform und kratzten sich, weil es sie juckte. Die Bezeichnungen, mit denen Somalier und Abessinier einander belegen, stammen aus uralten Zeiten. ›Laus‹ bezeichnet den abessinisch-äthiopischen Fußsoldaten auf diesen abgelegenen Stützpunkten, weil die Somalier diese ungewaschenen, schlechtbezahlten Soldaten mit diesem Insekt assoziierten. Die Amharen wiederum bezeichnen die Somalier als

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