Gekapert
steckt.
»Schau dich bloß mal an«, sagt Jeebleh, »so erwachsen und eine eigene Familie. Du hast doch ein Kind, oder? Junge oder Mädchen?«
»Ein Junge und so lebhaft, daß er uns um den Schlaf bringt.«
Körperlich und auch vom Temperament her unterscheidet sich Qasiir von dem Teenager, den Jeebleh vor ungefähr einem Jahrzehnt zu Gesicht bekommen hatte. Um die Taille hat er zugelegt, bewegt sich aber trotzdem geschmeidig.
»Ich bin überrascht, daß du immer noch Jeans trägst«, sagt Jeebleh. »Beäugen deine Altersgenossen, die zu dem gewänder- und barttragenden Haufen übergelaufen sind, einen Jeansträger nicht mit Mißtrauen?«
»Viele schon, aber die, die mir nahestehen, wissen Bescheid.«
»Du gehst aber nicht in Jeans in die Moschee?«
»Als ob das eine Rolle spielte«, sagt Dajaal.
»An Freitagen schon, Opa«, sagt Qasiir.
Für einen Moment ist Malik verwirrt, daß Qasiir Dajaal, seinen Großonkel, mit »Opa« anredet. Dann fällt ihm ein, daß es für das Wort Großonkel im Somalischen keine Entsprechung gibt. Aus eigener Erfahrung weiß er, wie schwierig es ist, Jeebleh in welcher Sprache auch immer anzusprechen, da er es nicht über sich bringt, ihn »Onkel« zu nennen, wie es ein somalischer Schwiegersohn eventuell tun würde, aber »Schwiegervater« ist zu ungelenk und zu förmlich. Vielleicht ist das Problem, wie man Schwiegereltern anspricht, noch in keiner Sprache gelöst worden.
»Du gehst nur freitags in die Moschee?« fragt Malik.
»Ich will ja schließlich gesehen werden.«
»Gehört mit zur Show«, bemerkt Dajaal.
»Wenn es stimmt, daß die Extremisten die Frauen auspeitschen, die unverschleiert auf den Straßen ertappt werden, wie erklärst du dann, daß jeanstragende Männer nicht bestraft werden? Würde mich nicht überraschen, wenn manche denken, daß du die islamische Lebensweise sabotierst.«
Wie Jeebleh erwartet hat, hat Qasiir schnell eine Antwort parat. »Möglich, daß sie mich in Ruhe lassen, weil einige meiner Kumpels in der Al-Schabaab aktiv sind und beträchtlichen Einfluß haben. Ich kenne diese Freunde besser als sonst jemand, weiß, daß sie ihre Position als Clanmilizionäre gegen ein weißes Gewand und einen Bart ausgetauscht haben, weil viele von ihnen zu faul sind, nach Rasierklingen zu suchen und sich täglich zu rasieren.«
»Nachahmer sind sie«, sagt Dajaal.
Jeebleh fällt ein französisches Sprichwort ein, das besagt, ein Mann mit einer Armbanduhr weiß genau, wieviel Uhr es ist, aber ein Mann mit zweien könne aufgrund der unterschiedlichen Anzeigen der beiden Armbanduhren unsicher werden, wieviel Uhr es wirklich ist. Weil Qasiirs Freunde janusköpfig sowohl in Richtung Vergangenheit als auch in die Zukunft sehen, werden sie wahrscheinlich bereit sein, zu helfen, denkt er.
»Nach landläufiger Meinung soll ja jeder über jeden in Mogadischu Bescheid wissen«, sagt Jeebleh, »aber sag mal, Qasiir, trifft das unter den derzeitigen Bedingungen überhaupt noch zu?«
»Wie meinst du das?« fragt Qasiir.
»Es heißt, daß unbekannte Attentäter durchs Land streifen sollen, eine Gruppe namens Fünfte Kolonne, die sich an ihre Opfer anschleicht und hochrangige Armeeoffiziere, Intellektuelle, Journalisten umbringt. Wer sind diese Attentäter, die es riskieren, einen Mann zu ermorden, der die Moschee verläßt?«
»Wir meinen zu wissen, wer es ist, aber wir sind nicht sicher«, sagt Qasiir.
»Weil wir die Opfer kennen – hauptsächlich Spezialisten –, ahnen wir, wer hinter den Morden steckt«, sagt Dajaal.
»Ist es möglich, herauszubekommen, wo die zwei Dutzend Rekruten aus Minnesota gelandet sind? Oder auf welchem Weg sie hierhergekommen sind?« fragt Jeebleh.
»Bei unseren Aussagen stützen wir uns auf kutiri-kuteen , auf Hörensagen, nicht auf Beweise«, entgegnet Dajaal. »In früheren Zeiten war der Clan das höchste Prinzip, obwohl wir wußten, daß das nur ein Vorwand war. Heute hat die Religion das Sagen. Ein Mörder wird als Mudschahed bezeichnet, der, wenn er getötet wird, zum Märtyrer wird.«
»Und als was bezeichnet man die Opfer?« fragt Malik.
»Um ihre Tötung zu rechtfertigen, werden die Opfer als Abtrünnige bezeichnet«, erwidert Qasiir, »das ist vermutlich nichts Neues.«
Dajaal beschreibt kenntnisreich, wie sich die Mörder katzengleich an ihre Opfer anschleichen. Nach der Tat verschwinden sie unbemerkt.
»Wir müssen alle vorsichtig sein«, sagt Jeebleh.
»Die kleinste Indiskretion kann zur Katastrophe, zum Tod
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