Gekapert
führen«, mahnt Dajaal. »Wir alle werden ständig darauf achten müssen, wo wir uns bewegen, wir müssen mit offenen Augen durch den Alltag gehen. Malik, als Journalist, muß ständig in Alarmbereitschaft sein. Jede Minute.«
»Wir müssen stets auf der Hut sein«, sagt Jeebleh.
Malik versichert ihnen, daß er an solche Dinge gewöhnt ist.
Verstohlen sieht Jeebleh auf seine Armbanduhr. »Zeit, daß wir beide losgehen«, sagt er zu Dajaal, »damit ich zu meinem Mittagessen mit Bile komme.«
»Ich werde beim Auto warten«, sagt Dajaal, »und Qasiir wird jetzt versuchen, den Computer zu reparieren, oder zumindest die gelöschten Dateien wiederherstellen.«
Allmählich macht sich Jeebleh Sorgen, daß er in den Tagen bis zu seiner Abreise nicht alles, was er sich vorgenommen hat, zufriedenstellend erledigen können wird. Hoffentlich wird er wenigstens in Ansätzen dafür sorgen können, daß Malik Unterstützung bei der Suche nach Taxliil bekommt, ohne seinen Vorsatz, sich dem Schreiben zu widmen, opfern zu müssen. Ehe er nach unten zu Dajaal geht, sucht er im Zimmer, das aufs Meer hinausgeht, seinen Schwiegersohn auf. Kaum hat er zögernd und weitschweifig angefangen, seine Gedanken auszubreiten, da unterbricht ihn Malik sanft; ihm sei der Gedanke, Qasiir einzubeziehen, bereits gekommen, und er werde es zur gegebenen Zeit angehen.
»Ich werde die Sache mit Qasiir besprechen, und dann werden wir später, wenn du und Dajaal wieder hier seid, einen endgültigen Beschluß fassen«, ergänzt Malik. »Ich hätte gern Dajaals Zustimmung, das gehört sich so.«
»Das ist eine gute Idee«, pflichtet Jeebleh bei.
D er Türöffner summt, und während Jeebleh das Haus von Bile und Cambara betritt, schickt sich deren Hausmädchen zum Gehen an. Bile begrüßt ihn sitzend mit herzlichem Händedruck. Er sieht besser aus. Als er Jeebleh bedeutet, er solle sich auf einen Stuhl setzen, sagt das Hausmädchen: »Bile, bitte sagen Sie Cambara, daß Sie mich gebeten haben, früher zu gehen, obwohl ich nicht alles machen konnte. Bitte, bitte, erklären Sie ihr das, ich möchte nicht, daß sie wütend auf mich ist.«
Sie kann nicht sehr gut sein, findet Jeebleh, angesichts der ungefegten Ecken, in denen sich der Staub sammelt, des dreckigen Geschirrs im Spülbecken. An eine derart angenehme Arbeitsstelle ist in einer Stadt, die eine der höchsten Arbeitslosenraten der Welt aufweist, garantiert schwer heranzukommen.
»Ich richte es Cambara aus«, sagt Bile.
Doch die Frau trödelt weiterhin herum, bis Bile verärgert den Kopf schüttelt und sagt: »Wir sehen uns morgen.«
Nachdem sie fort ist, statten Jeebleh und Bile ihrer gemeinsamen Vergangenheit einen flüchtigen Besuch ab, Sandkastenfreunde, die wie Brüder im selben Haushalt aufwuchsen, bis hin zu ihren gemeinsamen Jahren in Padua.
Dann erzählt Bile etwas, das Jeebleh ungeheuer freut: Zwei der drei Zitronenbäume, die er auf das Grab seiner Mutter gepflanzt hat, tragen bereits Früchte, und der Mangobaum produziert nicht nur affenkopfgroße Früchte, sondern spendet den Besuchern des Friedhofs auch Schatten. »Letztes Jahr bin ich leider bloß zweimal dort gewesen«, sagt Bile, »einmal mit Dajaal, das andere Mal mit Cambara.«
»Ich werde deine Großherzigkeit immer in Ehren halten.«
»Ach, sie war doch auch meine Mutter.«
Gerührt blinzelt Jeebleh gegen die Tränen an und hebt die Hand an die Augen, die Handflächen blaß wie der Bauch einer Eidechse. Bile wendet den Blick ab, zieht in der eigenen Handfläche Lebenslinie, Kopflinie, Herzlinie, Sonnenlinie und schließlich die Schicksalslinie mit dem Zeigefinger nach, wie es vielleicht ein Blinder tun würde. Was war das für eine Reise gewesen, zwei Freunde, die das gleiche Ideal ein Leben lang auf parallel verlaufende Straßen geführt hat. Beide saßen im Gefängnis, Bile die letzten Jahre in Einzelhaft. Dann führte das Schicksal sie in entgegengesetzte Richtungen: Jeebleh wurde Professor an einer amerikanischen Universität und bekam zwei Töchter, von denen eine ihm ein Enkelkind geschenkt hat. Bile hat sein Leben den Idealen der Menschenliebe gewidmet; jammerschade, daß Bürgerkriege alle Barmherzigkeit zunichte machen.
Bile gerät oft aus dem Gleichgewicht, neigt zu Stimmungswechseln, wenn er Medikamente nimmt, und ihm ist hundeelend, wenn er keine nimmt. Rücken und Knie bringen ihn um, das verdankt er den Jahren in engen Gefängniszellen. Heute ist sein Hemd falsch geknöpft, aber Jeebleh möchte ihn
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