Geklont
zugleich dachte sie, sie habe viele Dinge nicht zusammengefügt, weil sie keine Möglichkeiten gesehen hatte, ihnen einen Sinn abzugewinnen. Sie hatte geglaubt, daß die Dinge einfach geschahen, weil sie geschahen, weil sie immer geschehen waren und die Welt so beschaffen war. Aber das war dumm. Die Dinge geschahen nicht einfach so, es gab Leute, die sie geschehen ließen, und Florian und Catlin wußten es, so wie sie es hätte wissen müssen, wenn es nicht immer so gewesen wäre, von Anfang an.
Was stimmt hier nicht? hieß das Spiel, das sie spielten. Florian oder Catlin würden sagen: Was stimmt im Wohnzimmer nicht? Und sie maßen die Zeit, die es einen kostete, es herauszufinden. Ein paarmal entdeckte sie schneller etwas als Catlin, und einmal war sie schneller als Florian; gelegentlich versteckte sie Sachen, die die beiden finden mußten. In solchen Dingen war sie nicht dumm. Aber sie kam sich dumm vor, was die andere Sache anging.
Dumm war es zu glauben, daß die Dinge so sein mußten, wie sie waren.
Dumm war es, daß sie, als Mama fortgegangen war, geglaubt hatte, daß jemand sie zum Gehen gezwungen hatte, aber damals hatte sie sich nur alles zusammengereimt, deshalb fiel das nicht so ins Gewicht - wenn Mama ohne sie hatte gehen müssen, dann aus dem Grund, weil sie zu jung und die Reise zu gefährlich war. Und nur das hatte sie gesehen, während ihr das, was nicht stimmte, gleich ins Auge hätte fallen müssen.
Dumm war die Art, wie sie sich immer noch sträubte, das Ganze zu Ende zu denken, daß sie, wenn es einen Feind gab und er Mama erwischt hatte, nicht mit Sicherheit wußte, ob es Mama gut ging; das machte ihr Angst.
Sie erinnerte sich an den Streit mit Onkel Denys über die Party im letzten Jahr. Und wie sie sich gegen Girauds Kommen gewehrt und wie Onkel Denys gesagt hatte: Ari, das ist aber nicht nett. Er ist mein Bruder.
Das machte einem auch Angst.
Es machte einem Angst, weil Onkel Giraud Denys dazu bringen konnte, bestimmte Dinge zu tun. Onkel Giraud leitete den Sicherheitsdienst; und er kam vielleicht an ihre Briefe heran. Vielleicht würde er die Briefe an Mama sogar abfangen.
Und damit wäre alles vorbei.
Dumm. Dumm.
Sie fühlte sich ganz krank. Und sie konnte Onkel Denys nicht fragen, ob das stimmte. Er ist mein Bruder, würde er sagen.
IV
Giraud goß sich noch etwas Wasser ein, trank und überflog gelangweilt die Berichte, während die Erzieher sich über den jeweiligen Wert zweier Abhandlungen stritten, eine aus den Archiven, eine aktuelle.
Denys, Peterson, Edwards, Ivanov und Morley: Sie alle saßen an einem Tisch und diskutierten über ihre Schlußfolgerungen aus der Wortwahl eines achtjährigen Kindes. Es war nicht Girauds Fachgebiet. Bei Gott, dafür war Peterson der Experte.
»Die Sprachentwicklung befindet sich auf dem Stand einer Siebenjährigen«, erklärte Peterson in dem albernen Gemurmel, das er in Bestform zustandebrachte. »Die signifikante Anomalie in den Gönner Entwicklungsschemata ...«
»Ich glaube nicht, daß es Grund zur Besorgnis gibt«, unterbrach Denys. »Der Unterschied besteht zwischen Jane und Olga, nicht zwischen Ari und Ari.«
»Natürlich spricht einiges dafür, daß die Gonner-Batterie vom vorgesehenen Konzept abweicht. Hermann Poling behauptete in seinem Artikel in ...«
So ging das weiter. Giraud zeichnete kleine Rechtecke auf sein Notizpapier. Peterson leistete gute Arbeit. Man brauchte ihn nur zu fragen, und er hielt einem aus dem Stegreif einen Vortrag. Die Berufskrankheit eines Lehrers. Zu Kollegen und Fremden verhielt er sich genauso wie zu seinen jugendlichen Versuchspersonen.
»Das heißt also«, sagte Giraud schließlich, als das Glas mit Wasser halb ausgetrunken und das Blatt voller Kästchen war. »Das heißt, um es kurz zu fassen, daß Olga der Unterschied war.«
»Der Artikel von Poling ...«
»Ja. Natürlich. Und Sie glauben nicht, daß ein korrektives Band notwendig ist.«
»Die andere Quelle deutet auf eine weitgehende Übereinstimmung hin...«
»John meint«, erklärte Edwards, »daß sie alles versteht, sie kennt die Wörter, aber sie war in vielerlei Hinsicht so frühreif, daß sie sich ein internes Vokabular ausgearbeitet hat, das für sie eine Art Stenographie ist.«
»Es könnte einen unerwünschten Nebeneffekt zeitigen, wenn wir auf einer Änderung des Vokabulars bestehen«, sagte Denys. »Möglicherweise ist damit ihre Weitsicht nicht ausreichend beschrieben. Sie bevorzugt einfach Slang und ihren eigenen
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