Geködert
noch Zeit gehabt bis nächstes Jahr«, sagte ich lahm.
»Du hast gedacht, es würde nie dazu kommen«, sagte sie.
Dann blickte sie auf und bedachte mich mit einem wunderbaren Lächeln. Das musste man diesem verdammten Studienprojekt allerdings lassen: Die Aussicht, nach
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Cambridge zu gehen, versetzte sie in die heiterste Laune. Oder war es nur meine Bestürzung, die sie so amüsierte?
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3
Es war der Abend, an dem Gloria immer ihre Eltern besuchte.
Dienstags ging sie abends zum Mathematikunterricht, mittwochs war Volkswirtschaft dran, donnerstags die Eltern.
Da sie sich ihre Zeit so genau einteilte, fragte ich mich manchmal, ob ich eine ihrer Pflichten oder Teil ihrer Freizeitgestaltung war.
Ich blieb ungefähr eine Stunde länger als gewöhnlich im Büro, bis plötzlich Mr. Gaskell anrief, ein kürzlich pensionierter Artillerie-Feldwebel, der jetzt den Sicherheitsdienst beim Empfang hier versah. »Eine Dame ist hier. Will Sie persönlich sehen, hat Ihren Namen genannt, Mr. Samson.« Er flüsterte so diskret, dass es verschwörerisch wirkte. Ich fragte mich, ob dieser Respekt meinen beruflichen oder meinen
gesellschaftlichen Verpflichtungen galt.
»Hat sie einen Namen, Mr. Gaskell?«
»Lucinda Matthews.« Es hörte sich an, als läse er den Namen von dem Anmeldeformular ab, das Besucher bei uns ausfüllen müssen.
Der Name sagte mir gar nichts, aber ich hielt es für das Beste, das nicht zu erwähnen. »Ich komme runter«, sagte ich.
»Das wäre gut«, erwiderte der Sicherheitsbeamte. »Ich kann sie ja nicht alleine ins Haus lassen. Sie verstehen doch, Mr.
Samson?«
»Ich verstehe.« Ich sah aus dem Fenster. Die tiefhängende, graue Wolkendecke, die schon den ganzen Tag verdunkelt hatte, schien sich noch weiter gesenkt zu haben, und in der Dämmerung sah ich winzige Lichter wirbeln. Es fing also wirklich an zu schneien, wie im Wetterbericht angekündigt. Ich fröstelte bei dem Gedanken an die Kälte draußen.
Als ich endlich meine Akten weggeschlossen, mich davon überzeugt hatte, dass die Schränke ordnungsgemäß versperrt
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waren, und zum Pförtner herunterkam, war die mysteriöse Lucinda nicht mehr da.
»Eine nette kleine Person, Sir«, vertraute Gaskell mir an, als ich mich nach ihr erkundigte. Er stand neben dem Empfangspult in seiner dunkelblauen Pförtneruniform und trommelte mit den Fingern nervös auf einen Stapel eselsohriger Zeitschriften, die dort für Besucher, die lange in der zugigen Eingangshalle warten mussten, bereitlagen. »Gut gekleidet, eine Dame, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Ich hatte keine Ahnung, was er meinte. Gaskell redete eine Sprache, die gänzlich seine eigene zu sein schien. Besonders rätselhaft waren seine Äußerungen über Kleidung, Rang und Klasse, vielleicht wegen des sozialen Niemandslands, das die höheren Mannschaftsgrade des Militärs bewohnen.
Dergleichen elliptische Äußerungen war ich von Gaskell schon gewöhnt über alle möglichen Sachen. Ich wusste nie, wovon er redete. »Hat sie gesagt, wo sie auf mich warten will?«
»Sie hatte den Wagen vor der Tür geparkt, Sir. Ich habe ihr gesagt, sie solle ihn wegfahren. Sie kennen ja die Bestimmungen.«
»Ja, ich weiß.«
»Autobomben und so weiter.« Ganz gleich, wie weit er vom Thema abschweifte, immer redete er in dem Kommandoton, den er sich als Feldwebel angewöhnt hatte.
»Hat sie gesagt, wo sie auf mich warten will?« wiederholte ich meine Frage. Draußen fiel jetzt der Schnee in dicken Flocken. Der Boden war kalt, der Schnee würde also liegen bleiben. Ein paar Handvoll reichten in dieser Metropole schon, um das gesamte öffentliche Verkehrssystem lahmzulegen.
Gloria würde inzwischen bei ihren Eltern sein. Sie war mit der Bahn gefahren. Ich fragte mich, ob sie bei ihren Eltern übernachten würde oder erwartete, dass ich sie mit dem Wagen abholte. Ihre Eltern wohnten in Epsom; für meinen Geschmack unserem neuen Nest in Raynes Park entschieden zu nahe.
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Gloria sagte immer, ich hätte Angst vor ihrem Vater. Angst hatte ich nicht, nur keine Lust, von einem ungarischen Zahnarzt wegen meines Verhältnisses zu seiner kleinen Tochter verhört zu werden.
Gaskell redete weiter. »Fabelhaftes Fahrzeug. Ein dunkelgrüner Mercedes. Glänzend! Gewachst! Der wird gepflegt, das sieht man sofort. Eine Dame, die einen Wagen poliert, ist mir noch nicht vorgekommen. So was liegt ihnen nicht.«
»Wo ist sie hin, Mr. Gaskell?«
»Ich habe ihr gesagt, der beste Parkplatz hier
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