Geködert
in der Nähe ist der vom Elephant and Castle.« Er ging zu dem Stadtplan an der Wand und zeigte mir, wo man das Lokal findet. Gaskell war ein stattlicher Mann. Er hatte sich schon mit fünfzig pensionieren lassen. Ich fragte mich, weshalb er kein Wirt geworden war. Hinter der Theke eines Pubs konnte ich ihn mir gut vorstellen. Und als ich mich in der letzten Woche nach dem Fahrplan der Züge zwischen London und Portsmouth bei ihm erkundigt hatte, hatte er mir mit einem Schwall anderer Informationen auch anvertraut, dass er genau das gerne gemacht hätte.
»Vergessen Sie den Parkplatz, Mr. Gaskell. Ich will wissen, wo sie mich erwartet.«
»Sandy’s«, sagte er nun. »Sie kennen das Lokal angeblich gut.« Er sah mich prüfend an. Seitdem unsere Büroadresse dank den Bemühungen der um die öffentliche Kontrolle der Geheimdienste so besorgten Presse allgemein
bekanntgeworden war, hatte das Personal die strikte Anweisung, Bars, Pubs und Clubs in der näheren Umgebung zu meiden, weil dort mit der ständigen Anwesenheit diverser Lauscher, Amateure, aber auch Profis, zu rechnen war.
»Ich wünschte, Sie würden solche Sachen notieren«, sagte ich. »Ich kenne das überhaupt nicht. Wissen Sie, wo das sein soll? Ist es ein Café oder was?«
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»Auf alle Fälle kein Café, das ich kenne«, erwiderte Gaskell. Er runzelte die Stirn und saugte an seinen Zähnen.
»Hier in der Nähe kann’s nicht sein.« Und dann erhellte eine Erinnerung sein Gesicht. »Big Henry’s! Das ist es, was sie gesagt hat. Big Henry’s.«
»Big Henty’s«, verbesserte ich. »Tower Bridge Road. Ja, das kenne ich.«
Ja, ich kannte es, und ich war nicht scharf darauf, der Dame, die mich dort erwartete, Gesellschaft zu leisten. Ich wusste genau, was für »Informanten« sich bei Big Henty’s mit einem treffen wollten. Schwätzer, die hofften, mühelos ein bisschen dazuzuverdienen. Und ich hatte mich darauf gefreut, den Abend allein zu Hause am Kaminfeuer mit den Resten des Entenbratens vom Sonntag, einer Flasche Wein und einem Buch zu verbringen. Ich blickte zur Tür und dann zu Gaskell.
Und ich fragte mich, ob es nicht das Vernünftigste wäre, mir Lucinda und die Leute, die sie vielleicht vorgeschickt hatten, aus dem Kopf zu schlagen, geradewegs nach Hause zu fahren und die ganze Sache zu ignorieren. Höchstwahrscheinlich würde ich von der geheimnisvollen Lucinda nie wieder etwas hören. Die Stadt war voll von Leuten, die mich vor Jahren einmal gekannt hatten und sich plötzlich an mich erinnerten, wenn es ihnen einfiel, dass sie ein paar Pfund aus der öffentlichen Hand gut gebrauchen und diese gegen irgendwelche überholten und unzuverlässigen Informationen einhandeln könnten.
»Wenn Sie wollen, dass ich mitkomme, Mr. Samson …«
sagte Gaskell auf einmal und hielt inne, damit ich über sein Angebot nachdenken konnte.
Gaskell nahm also an, dass in irgendeiner Form mit Gewalt zu rechnen war. Ein anständiger Kerl, dieser Gaskell. Aber sicherlich war er zu alt für solche Sachen. Ich war es jedenfalls.
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»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr. Gaskell«, entgegnete ich. »Aber ich glaube, die Sache wird eher langweilig als gefährlich.«
»Wie Sie meinen«, sagte Gaskell. Er konnte seine Enttäuschung nicht ganz verbergen.
Es war diese Spur von Ungläubigkeit, die mir das Gefühl gab, ich müsse der Sache nachgehen. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, als sei ich nervös. Verdammt noch mal!
Warum hatte ich nicht den Mut, mich nicht darum zu kümmern, was die Gaskells dieser Welt von mir dachten?
Die Tower Bridge Road ist eine Hauptstraße im Süden Londons, die zur Themse führt oder vielmehr zu der seltsamen neugotischen Brücke, die für viele Ausländer das Wahrzeichen der Hauptstadt ist. Die Gegend heißt Southwark. Von hier aus traten Chaucers Pilger die Wallfahrt nach Canterbury an, und ein paar Jahrhunderte später wurde auf dem sumpfigen Boden Shakespeares Theater The Globe errichtet. Zu Zeiten der Königin Victoria im vergangenen Jahrhundert war diese Geschäftsstraße, in der noch bis spät in die Nacht Markt gehalten wurde, Drehorgeln dudelten und Dutzende von hellerleuchteten Pubs die Trinker einluden, das Zentrum eines der lebendigsten Viertel der Stadt. Da gab es düstere Slums, rauchgeschwärzte Fabriken, geschäftige Werkstätten, aber auch nette, baumbestandene kleine Plätze, wo bierbäuchige Krämer und dürre Federfuchser ihre soziale Überlegenheit behaupteten.
Jetzt ist die Straße
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