Geliebte der Nacht
gegen sechs Schläger, die wahrscheinlich unter Drogen standen. Aber sie konnte sie nicht sehen.
Sie waren verschwunden.
Eine Gruppe von jungen Clubbesuchern stieg die Stufen hinauf. Einer von ihnen spielte Luftgitarre, seine Freunde redeten davon, später in dieser Nacht noch auf eine Party zu gehen.
„Hey“, sagte Gabrielle, halb in der Erwartung, dass sie einfach an ihr vorbeigehen würden. Sie hielten inne und lächelten sie an, selbst wenn sie mit ihren achtundzwanzig Jahren wahrscheinlich ein Jahrzehnt älter war als jeder von ihnen.
Der Typ an der Spitze nickte ihr zu. „Was ist los?“
„Hat einer von euch …“ Sie zögerte, nicht sicher, ob sie erleichtert sein sollte, dass dies offensichtlich doch kein Traum war. „Habt ihr zufällig die Schlägerei gesehen, die hier draußen vor ein paar Minuten stattgefunden hat?“
„Eine Schlägerei? Super!“, sagte der mit der Luftgitarre.
„Nee, Mann“, antwortete ein anderer. „Wir sind gerade erst hergekommen. Wir haben nix gesehen.“
Sie gingen an ihr vorbei, stiegen die restlichen Stufen hinauf, während Gabrielle sprachlos zusah und sich fragte, ob sie den Verstand verlor. Sie ging zum Straßenrand hinunter, wo das zerbrochene Glas von der Windschutzscheibe noch immer über die Straße verstreut lag. Da war Blut auf dem Asphalt zu sehen, aber der Junge und seine Angreifer waren verschwunden.
Gabrielle stand im Schein einer Straßenlaterne da und rieb sich die Arme, um das Kältegefühl darin zu vertreiben. Sie drehte sich um, blickte die Straße in beide Richtungen hinunter, auf der Suche nach irgendeinem Anzeichen für die Gewalt, deren Zeugin sie vor nur wenigen Minuten geworden war.
Nichts.
Aber dann … hörte sie es.
Das Geräusch kam aus einer schmalen Gasse auf ihrer rechten Seite. Gesäumt von einer schulterhohen Betonwand, die den Schall verstärkte, drang aus dem finsteren Weg ein schwaches, tierähnliches Grunzen bis zur Straße. Gabrielle konnte das seltsame Geräusch nicht einordnen. Sie konnte sich dieses ekelhafte Schmatzen, das ihr das Blut in den Adern gefrieren und jede Faser ihres Körpers vor Angst vibrieren ließ, nicht erklären.
Ihre Füße bewegten sich. Nicht weg von der Quelle dieser verstörenden Geräusche, sondern darauf zu. Ihr Mobiltelefon lag wie ein Backstein in ihrer Hand. Sie hielt die Luft an. Ihr war gar nicht bewusst, dass sie das Atmen vergessen hatte, bis sie ein paar Schritte in die Gasse gemacht hatte und ihr Blick auf die Gestalten vor ihr fiel.
Die Schlägertypen in Leder und mit den Sonnenbrillen.
Sie hatten sich auf ihre Hände und Knie niedergelassen, zogen und zerrten an etwas. In dem schwachen Licht, das von der Straße hereindrang, erhaschte Gabrielle einen flüchtigen Blick auf ein zerfetztes Stück Stoff, das in der Nähe einer Blutlache lag. Es war das Trägerhemd des Jeanstyps, zerrissen und fleckig.
Gabrielles Finger, der über der Wahlwiederholungstaste ihres Handys schwebte, senkte sich stumm auf den winzigen Knopf. Am anderen Ende war ein leises Tuten zu hören, und dann unterbrach die Stimme des Diensthabenden dröhnend die Stille der Nacht.
„Sie haben den Notruf gewählt. Worin besteht Ihr Notfall?“
Einer der Schläger hatte die Stimme auch gehört und drehte sich ruckartig zu Gabrielle um. Wilde, hasserfüllte Augen durchbohrten sie wie Dolche und ließen sie wie angewurzelt an Ort und Stelle verharren. Sein Gesicht war blutig, glitschig von geronnenem Blut. Und seine Zähne – sie waren scharf wie die eines Tieres. Nein, eigentlich waren es keine Zähne, sondern Fänge, die er entblößte, als er seinen Mund öffnete und ein schrecklich klingendes Wort in einer fremden Sprache fauchte.
„Sie haben den Notruf gewählt“, sagte der Polizeidienstleiter erneut. „Bitte nennen Sie die Art des Notfalls.“
Gabrielle konnte nicht sprechen. Vor lauter Entsetzen konnte sie kaum atmen. Zwar gelang es ihr, das Handy an ihren Mund zu heben, doch kam kein Laut über ihre Lippen. Die Chance war vertan.
Da ihr dies selbst völlig klar war, tat Gabrielle das einzig Vernünftige in dieser Situation. Mit zitternden Fingern drehte sie das Handy in Richtung der Schläger und drückte den Auslöser der Handy-Kamera. Ein kleiner Blitz erhellte die Gasse.
Nun drehten sich alle zu ihr um und schützten ihre mit Sonnenbrillen bedeckten Augen.
Oh Gott. Vielleicht hatte sie trotzdem noch eine Chance, dieser höllischen Nacht zu entkommen. Gabrielle drückte die Fototaste wieder und
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