Geliebter Barbar
Friedhof angelangt. Neugierig hatte sie angehalten, um sich umzuschauen.
Die letzte Ruhestätte war ein hübscher, friedlicher Ort. Ein weißer, frischgetünchter Lattenzaun begrenzte den Platz an drei Seiten. Verzierte Grabsteine, manche abgerundet, manche eckig, standen in ordentlichen Reihen innerhalb der Umzäunung. Frische Blumen bedeckten fast jedes übrige Fleckchen. Wer immer die Aufgabe hatte, sich um diesen Ort des Friedens für die Toten zu kümmern, hatte seine Arbeit gut gemacht. Die liebevolle Pflege war nicht zu verhehlen.
Judith schlug das Zeichen des Kreuzes, als sie über den Pfad schritt. Sie verließ den Friedhof, wie es sich schickte, und erklomm dann den schmalen Steig hinter den Bäumen, die die Sicht auf das Tal dahinter versperrten. Der Wind pfiff durch die Zweige und erzeugte einen traurigen Laut.
Der Platz für die Verdammten war direkt vor ihr. Sie hielt abrupt inne, als sie den Rand des kargen Geländes erreicht hatte. Hier gab es keine hübschen, weißgetünchten Zäune oder verzierte Grabsteine. Hier ragten nur verwitterte Holzkreuze auf. Judith wußte, wer hier begraben lag. Es waren die armen Seelen, über die die Kirche entschieden hatte, daß sie in die Hölle gehörten. Aye, hier lagen Räuber und Mörder, Frauenschänder, Diebe und Verräter … und all die Frauen, die während der Geburt ihres Kindes gestorben waren!
Die Wut, die sie loszuwerden gehofft hatte, schwoll erneut an. Gab es denn auch nach dem Tod keine Gerechtigkeit?
»Judith?«
Schnell sah sie sich um und entdeckte Iain, nur ein paar Schritte von ihr entfernt. Sie hatte ihn nicht kommen hören.
»Glaubst du, sie sind alle in der Hölle?«
Er hob eine Augenbraue über die Erregung in ihrer Stimme. »Von wem sprichst du?«
»Die Frauen, die hier begraben sind«, erklärte sie mit einer vagen Geste. Sie wartete jedoch keine Antwort ab. »Ich glaube nicht, daß sie in der Hölle sind. Sie sind in Erfüllung ihrer heiligen Pflicht gestorben, verdammt noch mal. Sie haben qualvolle Wehen erlitten und starben, weil sie das taten, was ihre Männer und die Priester von ihnen erwarteten. Und wofür, Iain? Um für ewig in der Hölle zu schmoren, nur weil die Kirche sie für den Himmel nicht rein genug hält? So ein Schwachsinn!«
Ihre Stimme war zu einem harschen Flüstern geworden. »Alles Wahnideen! Und wenn mich das zur Gotteslästerin macht, ist mir das egal. Ich kann einfach nicht glauben, daß Gott so grausam sein soll.«
Iain fiel keine Erwiderung ein. Sein Verstand sagte ihm, daß sie recht hatte – es war schwachsinnig. Tatsächlich hatte er sich niemals die Zeit genommen, über solche Dinge nachzudenken.
»Die Pflicht einer Frau ist es, ihrem Mann Erben zu schenken, ist das richtig?«
»Ja«, stimmte er zu.
»Dann frage ich mich, warum sie keine Kirche mehr betreten darf, sobald sie weiß, daß sie schwanger ist. Sie wird als unrein angesehen, nicht wahr?«
Er wollte gerade antworten, als sie die nächste Frage stellte. »Hältst du Frances Catherine für unrein? Nein, natürlich nicht«, antwortete sie sich selbst. »Aber die Kirche tut es. Und wenn sie Patrick einen Sohn schenkt, braucht sie nur dreiunddreißig Tage zu warten, bevor sie sich dem Reinigungsritual unterzieht und wieder in die Kirche gehen kann. Wenn es allerdings eine Tochter wird, muß sie doppelt so lange warten … und wenn sie zufällig dabei stirbt oder irgendwann vor diesem Ritual, dann bekommt sie noch nicht einmal diesen Segen. Sie endet hier oben! Wie passend für Frances Catherine, neben einem Mörder begraben zu werden oder …«
Endlich hörte sie auf. Sie senkte den Kopf und stieß einen müden Seufzer aus. »Es tut mir leid. Ich hätte dich nicht so anbrüllen dürfen. Wenn ich mich bloß dazu zwingen könnte, nicht über solche Dinge nachzudenken, würde ich nicht dauernd so wütend werden.«
»Es liegt in deiner Natur, dich um andere zu kümmern.«
»Woher willst du wissen, was in meiner Natur liegt?«
»Die Art, wie du Isabelle geholfen hast, ist ein Beispiel«, antwortete er. »Und ich weiß noch viele andere Beispiele.«
Seine Stimme war voller Zärtlichkeit, und es war für sie wie eine Liebkosung. Sie wünschte sich plötzlich, sich an ihn zu lehnen, ihre Arme um ihn zu schlingen und ihn festzuhalten. Iain war so wunderbar stark, und sie fühlte sich im Augenblick entsetzlich verletzbar.
Bis zu diesem Moment hatte sie nicht erkannt, wie sehr sie ihn bewunderte. Er war stets seiner Sache sicher, ja, seiner
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