Geliebter Lord
sorge dafür, dass sie ihn erhält.«
Dem Mann den Brief auszuhändigen würde ihm, Brendan, eine Mühe ersparen und ihm gestatten, unverzüglich nach Gilmuir zurückzukehren. Aber irgendetwas in Charles’ schmalen Augen weckte Zweifel in ihm, dass die junge Frau Marys Nachricht je zu sehen bekäme.
»Ich habe Mrs. Gilly versprochen, ihrer Freundin den Brief persönlich zu geben«, sagte er. Noch eine Lüge. »Wenn Ihr den Weg zu ihr nicht kennt, werde ich einen Passanten fragen.«
Widerwillig gab Charles ihm die erbetene Auskunft. Als Brendan den Laden verließ, war er einerseits erleichtert, weil er die Hälfte seines Auftrags bereits erfüllt hatte, andererseits verärgert, weil Hamish ihn ihm aufgenötigt hatte.
Man hätte meinen können, Matthew Marshalls Stimme hallte von der Kuppe herab, an deren Fuß sich die Menge versammelt hatte, und das, obwohl Marshall nicht schrie. Zunächst erfüllte er die Erwartungen jener, die gekommen waren, um ihn über eine gesündere, befriedigendere Lebensführung sprechen zu hören. Dann beantwortete er Fragen, deren erste zu einem langatmigen Bericht über seine Reisen führte.
Elspeth Grant hörte nur mit halbem Ohr zu. Wenn Mary da wäre, würde sie sich nicht so schrecklich langweilen. Kaum gedacht, erfüllte der Gedanke sie mit Schuldgefühlen ob ihrer Kritik an Mr. Marshall. Er war ein außergewöhnlich feiner Mensch und ein Mann der Kirche.
Aber er war auch sehr gesprächig.
Sie und ihr Bruder Jack hatten die Aufgabe, Mr. Marshall nach seinem Vortrag in ihr Elternhaus zu begleiten, wo Vater und Mutter ihn als Mitglieder seiner weitverzweigten Glaubensgemeinschaft begrüßen würden. Der Vater war wegen eines Gichtanfalls zu Hause geblieben und die Mutter, um letzte Vorbereitungen für den Empfang des illustren Gastes zu treffen.
Elspeth wandte sich wieder Mr. Marshalls Ausführungen zu und erkannte, dass er noch immer mit der Beantwortung der ersten Frage beschäftigt war.
»Ich besitze die gleichen Kräfte wie vor dreißig Jahren. Meine Sehkraft ist besser, und meine Muskeln sind kräftiger als in meiner Jugend. Ich bin dankbar, berichten zu können, dass ich unter keiner der üblichen Schwächen des Alters zu leiden und einige aus meiner Jugend verloren habe. Meine gute Gesundheit kann ich nur meinen ständigen Reisen zuschreiben, denn ich habe in jedem der letzten zwanzig oder mehr Jahre nicht weniger als fünftausend Meilen zurückgelegt.«
Mr. Marshall hatte langes weißes Haar, das offen fast bis auf seinen Kragen fiel, sein von tiefen Falten durchzogenes, gebräuntes Gesicht war freundlich, seine Haut rein und weich und der Blick seiner klaren Augen durchdringend.
Wenn Mary da wäre, würde sie an seinen Lippen hängen, dachte Elspeth. Aber Mary war nicht nur nicht hier – sie war nicht einmal in Inverness. Und das war erstaunlich.
Vor ein paar Tagen hatte Elspeth im Laden des Goldschmieds erfahren, dass ihre Freundin die Stadt tags zuvor verlassen hatte.
»Aber weshalb denn?«, hatte sie verdattert gefragt.
»Um den Bruder eines einflussreichen Kunden zu behandeln.« Charles schien nicht glücklich darüber zu sein.
»Sie hat Inverness doch noch nie verlassen!«
»Und sie wird es auch nie wieder tun, das garantiere ich Euch!«
Elspeth hatte nichts dazu gesagt, aber der Ausdruck in Charles’ Augen hatte ihr nicht gefallen. Seit Gordons Tod kritisierte der junge Mann Mary immer häufiger.
»Solltet Ihr etwas von ihr hören, lasst es mich bitte wissen.« Damit hatte sie den Laden verlassen, bevor sie ihr Unbehagen kundtun konnte.
Wieder zwang sie sich hinzuhören. Jetzt sprach Mr. Marshall über seine Hospitäler in London. Sie würde versuchen, sich das Wichtigste davon zu merken, wie auch all die Informationen über seine Heilbehandlungen.
Mary verkörperte für Elspeth Freiheit. Ihres guten Rufs wegen galt Mary als passender Umgang für sie. Elspeths Eltern wussten ja nicht, dass Mary manchmal so laut lachte, dass es von den Häusern in den engen Straßen von Inverness widerhallte. Oder dass manchmal Leute bei was immer sie gerade taten innehielten, um den Ursprung der Heiterkeit zu ergründen.
Elspeth bezweifelte, dass irgendjemand bei Mary die Gedanken vermutete, die diese ihr auf dem Heimweg von der Kirche oder vom Einkaufen anvertraut hatte. Hin und wieder überraschte Mary sie derart, dass sie mitten auf der Straße stehen blieb und ihre Freundin mit offenem Mund anstarrte.
»Du musst nicht die Welt sehen, um die
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