Geliebter Lord
gegangen war, setzte Mary sich in die Ecke, die Annie sich ursprünglich ausgesucht hatte. Die Frau war vor ein paar Tagen abgeholt worden, und seitdem hatte man immer wieder eine Gefangene hereingebracht, aber keine war lange geblieben. Mary hatte begonnen, für jeden Tag eine Kerbe in die Wand zu ritzen, und so wusste sie, dass vier Tage vergangen waren, seit sie auf Castle Gloom verhaftet worden war.
Was für ein dummer Name für einen so zauberhaften Ort. Er passte eher zu dieser schrecklichen Zelle. Mary erinnerte sich, einmal gedacht zu haben, dass sie sich allein in der Dunkelheit aufhalten sollte, bis sie ihre Abneigung dagegen verloren hätte, doch sie hatte es nie verwirklicht, und so graute ihr schon morgens vor dem Sonnenuntergang und den endlosen Nachtstunden.
Aber im Moment schien die Sonne herein.
Mary zog die Briefe unter ihrem Schultertuch hervor. Die Schrift auf dem obersten Kuvert war ihr fremd. Schwungvoll hatte jemand mit Tinte ihren Namen darauf geschrieben. Mary. Ihr war, als hörte sie Hamish ihn rufen. Mit klopfendem Herzen erbrach sie das Siegel und suchte die Unterschrift. Sie hatte sich nicht geirrt.
Hamish war in der Stadt.
Mit beiden Händen drückte sie seinen Brief an die Brust. Wie oft hatte sie sich gewünscht, dass er käme? Hundertmal? Tausendmal?
Sie versuchte zu erraten, was er geschrieben hatte. Vielleicht hatte er zu Papier gebracht, was er einmal zu ihr gesagt hatte.
Ich möchte, dass du bei mir bleibst, solange du willst.
Er hatte nichts von ihr verlangt, ihr aber auch nichts versprochen. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie sich wünschte, er
würde
etwas von ihr verlangen. Schenk mir dein Herz, könnte er sagen, und sie würde antworten, dass sie das schon längst getan hatte.
Sein Brief bestand nur aus wenigen Worten, aber diese nahmen in seiner großen Schrift die ganze Seite ein.
Mary,
wir werden einen Weg finden, Deine Freilassung zu erreichen. Ich wollte Dich besuchen, aber es wurde mir nicht gestattet. Ich bin mit meinen Gedanken bei Dir.
Hamish
Ein für einen Außenstehenden unverfänglicher Brief, doch Mary las, was zwischen den Zeilen stand. Hamish war nach Inverness gekommen, um sie zu suchen, hatte sich überwunden, seine Einsiedelei zu verlassen. Lieber Hamish. Liebster Hamish. Geliebter Hamish. Sie drückte die Finger auf die Buchstaben, als könnte sie ihn dadurch spüren.
Eine Träne fiel auf ihre Hand und tropfte auf das Blatt, benetzte die Unterschrift.
Es war das erste Mal, dass sie weinte, denn bei aller Angst hatte sie sich geschworen, nicht schwach zu werden, tapfer zu sein, Sir John nicht schon einen Sieg über sie zu gönnen, bevor sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstünden.
Wie hatte Hamish seine Gefangenschaft ertragen? Ihre dauerte erst ein paar Tage, seine hatte mehr als ein Jahr gedauert! Und man folterte sie auch nicht. Seine Worte fielen ihr ein.
Ich stellte fest, dass ich unbedingt leben wollte.
So misslich ihre Lage hier auch war, sie ließ sich nicht mit den Bedingungen vergleichen, die er hatte erdulden müssen.
Entschlossen drängte sie ihre Tränen zurück. Wenn sie nicht weinte, würde sie nicht trauern. Wenn sie weinte, würde ihr Elend sie überwältigen, bis nichts mehr übrig wäre von der Mary Gilly, die sie gewesen war.
Hamish fehlte ihr. So sehr, dass es schmerzte. Was würde wohl der Sheriff sagen, wenn er wüsste, dass sie, eine anständige Witwe, nicht ihren verstorbenen Ehemann vermisste, sondern ihren Geliebten?
Hamish. Sie flüsterte den Namen wie ein Gebet.
Einen nach dem anderen öffnete sie die Umschläge und musste doch immer wieder eine Träne wegwischen, als sie die Worte der Unterstützung und Ermutigung von Elspeth und ihrer Familie las. Am Ende barg sie die Briefe wieder an ihrer Brust, setzte sich in ihrer Ecke auf den Boden und verschränkte in dem vergeblichen Bemühen, sich zu wärmen, die Arme.
Morgen fand die Anhörung statt. Dann würde die Wahrheit ans Licht kommen, und sie könnte nach Hause gehen. Bitte, lieber Gott, lass mich nach Hause gehen dürfen, flehte sie im Stillen.
Sie lehnte den Kopf an die Wand, schloss die Augen und machte sich vor, im Turmzimmer von Castle Gloom zu stehen. Einen bestimmten Moment erinnernd, konnte sie beinahe Hamishs Umarmung spüren, seine Wange an ihrer Schläfe.
»Was gibt es da draußen denn Interessantes zu sehen, Mary?«
»Das Wasser.«
»Und was ist daran so besonders?«
»Mir ist vorher nie aufgefallen, dass es so viele
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