Gelinkt
betrübte Laune, die von denen Depression genannt wird, die nicht wissen, was das ist. Fiona hatte jene Anfälle tiefster Verzweiflung und Selbstekels, von denen man sich nur langsam erholt. Und wie bei den meisten Seelenleiden gab es auch für ihre Ängste reale Ursachen. Es war lähmend, sich so nach Bernard und den Kindern zu sehnen, und quälend, sich vorzustellen, wie sehr sie sie hassen mußten. Nur mit großer Mühe konnte sie ihr Elend ertragen. Arbeit war ihre Medizin. Wenn sie der Arbeit für ihre Dienststelle müde wurde, las sie deutsche Geschichte und verbesserte ihre mündliche und schriftliche Beherrschung der deutschen Sprache. Noch passierte es ihr manchmal, daß sie den falschen Fall benutzte. Sie dachte nie darüber nach, wie lang ihr Aufenthalt hier bemessen sein würde. Wie ein Soldat im Feld hatte sie sich mit der Vorstellung vertraut gemacht, tot zu sein. Glücklicherweise hatten Renn und die anderen sie nie in ihrer normalen Gemütsverfassung gekannt und nahmen an,
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daß diese launische Frau, die oft scheinbar grundlos lange schwieg und zu plötzlichen Zornesausbrüchen neigte, die Person war, die sie immer gewesen.
Während sie unter den Bäumen ihres Weges ging – das Mondlicht war hell genug, ihren Schatten auf den Grasstreifen zu werfen –, dachte sie über Renns Geburtstagsfeier nach und über die dazu geladenen Gäste. Unwillkürlich fragte sie sich, ob es noch eine andere Geburtstagsfeier geben würde, deren Gäste eine bessere Vorstellung von den Verwandten, Freunden und Nachbarn gewähren würden, an denen es Renn offenbar doch nicht fehlte. Waren die heute Anwesenden die Menschen, die, nachdem er sein ganzes Leben hier in der Stadt verbracht hatte, ihm und seiner Frau am nächsten standen? Und wenn nicht, warum nicht?
Und wenn ein derartig elegantes kleines Abendessen –
extravagant für hiesige Verhältnisse – für die Renns nichts Außergewöhnliches war, warum hatte Gretel jenes Kleid heute abend zum ersten Mal seit acht Jahren getragen?
Und was war von der offenen und ehrlichen Miranda zu halten? In dieser rätselhaften Stadt mit all ihren Halbwahrheiten und Doppelsinnigkeiten gab es nichts Rätselhafteres als solche Offenheit. Sie hatte noch keine Lösung, als sie in Grünau anlangte. Der noch im 19.
Jahrhundert erbaute grandiose Stadtbahnhof war düster und vernachlässigt: eine Regenpfütze unter dem überwölbten Eingang, das Pflaster der Bahnsteige schadhaft, die Glasur der Ziegel gesprungen, die emaillierten Schilder an den Wänden rostfleckig. Und doch waren die Bahnsteige ordentlich gefegt und die Papierkörbe geleert. Ein großer Teil des Ostsektors der Stadt sah so aus, fand Fiona. Wie der baufällige Familiensitz einer verarmten Herzogin, die den Schein zu wahren versucht.
Die anderen Leute, die hier auf den Zug warteten, unterhielten sich leise und waren gut gekleidet. Selbst der auf einem Gepäckkarren sitzende obligatorische Betrunkene summte nur
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leise vor sich hin.
Der Zug fuhr ein, und der schneidig uniformierte Stationsvorsteher wartete, bis der taumelnde Betrunkene sicher an Bord war, ehe er das Signal zur Abfahrt gab.
In dem auf einem eisernen Gerüst stadteinwärts ratternden Zug dachte Fiona weiter über die Gäste nach. Felix, Huberts redegewandter Bruder: Sie fragte sich, auf welcher Seite er wohl im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte. Wenn auf republikanischer, wie hatte er die Nazizeit überstanden? Wenn aber auf derjenigen Francos, wie hatte er die auf die Nazizeit folgende ausgehalten? Und doch fand Fiona die Anwesenheit Mirandas am rätselhaftesten. Sie fragte sich, warum Hubert Renn nie erwähnt hatte, daß die Mutter seines »Patenkindes«
gebürtige Londonerin war und er ihr nicht vorher gesagt hatte, daß sie unter seinen Geburtstagsgästen eine Landsmännin finden würde. Hätte sich’s um die Geburtstagsfeier irgendeines anderen Menschen gehandelt, wäre nichts von alledem bemerkenswert gewesen, aber inzwischen kannte Fiona Renn schon recht gut und wußte, daß die Abendgesellschaft, von der sie kam, zweifellos nicht nach dem Geschmack des Geburtstagskindes gewesen war.
Fionas Neugier wäre befriedigt worden, hätte sie um halb elf am nächsten Vormittag die Szenerie in ebendiesem Gisela-Mauemayer-Saal beobachtet. Miranda war dort mit zwei Russen und einer Schwarzen. Sie beschrieb die Gesellschaft vom Abend zuvor bis in alle Einzelheiten.
Fionas streitsüchtiger Kollege Pawel Moskwin war ebenfalls
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