Gelinkt
kriege die Protokolle der Vormittagssitzungen immer erst am Nachmittag des folgenden Tages. Gibt es dafür einen Grund?«
»Jeder kriegt die Protokolle mit der gleichen Zustellung.« Er lächelte listig. »Wir sind langsam, das ist der einzige Grund.« Ein großer Bus mit Klimaanlage kroch über die Brücke. Blasse japanische Gesichter drückten sich an die grau getönten Scheiben. Aus dem Inneren drangen die schrillen Erläuterungen eines Reiseführers, die bis auf die Worte »Hauptmann von Köpenick« unverständlich blieben. Der Bus fuhr langsam weiter und verschwand hinter den Bäumen. »Niemals besichtigen sie das Schloß oder das Kunstmuseum«, sagte Renn traurig. »Nur das Rathaus wollen sie sehen. Der Reiseführer wird ihnen von dem Schuhmacher erzählen, der eine Hauptmannsuniform im Leihhaus kaufte, das Kommando über ein paar Soldaten, die gerade Urlaub hatten, übernahm und den Bürgermeister und den Schatzmeister der Stadt einsperrte. Und dann werden sie alle lachen und sagen, was für Dummköpfe wir Deutschen sind.«
»Ja«, sagte Fiona. Trotz des Schlosses und des dunkelgrünen Forstes und der klaren blauen Seen und Flüsse dachte, wenn man von Köpenick redete, jeder nur an den Hauptmann.
»Und das Traurige ist«, sagte Renn, »daß der arme alte Wilhelm Voigt, der Schuster, gar nicht die Stadtkasse wollte; er wollte eine Aufenthaltserlaubnis, und Köpenick hatte kein Amt, das ihm die hätte ausstellen können. Er war kein Berliner, wissen Sie, und seine Eskapade endete als Fiasko.«
»Ich bin keine Berlinerin, nicht mal gebürtige Deutsche …«, sie sprach nicht zu Ende.
»Aber Sie sprechen hervorragend gut Deutsch«, fiel ihr Renn ins Wort. »Das fällt jedem gleich auf, Sie sprechen das reinste Hochdeutsch. Ich schäme mich richtig zu berlinern, wenn ich mit Ihnen rede.« Er sah sie an. »Haben Sie Kopfschmerzen?« Sie schüttelte den Kopf.
»Fragen Sie sich nicht manchmal, ob ich nicht vielleicht der Klassenfeind bin, Herr Renn?« Er stülpte die Lippen vor.
»Wladimir Iljitsch Lenin war der Sohn bourgeoiser Eltern«, sagte Renn. Die Zweideutigkeit dieser Antwort war charakteristisch.
»Von der Herkunft des Genossen Lenin mal abgesehen«, sagte Fiona. »Wenn versucht werden sollte, mich von meinem Posten zu vertreiben, wie würden Sie sich dazu stellen?« Sein bereits verzerrtes Gesicht geriet in heftige Bewegung, während er sich die Lippen befeuchtete und die Stirn runzelte, um tiefes Nachdenken anzudeuten. »Ich würde die Tatsachen in Betracht ziehen müssen«, sagte er endlich.
»Die Tatsachen in Betracht ziehen?«
»Ich habe Frau und Kinder«, sagte Renn. »Die würde ich in Betracht ziehen müssen.« Er wandte sich um und sah auf den Fluß, der jetzt langsam und ölig floß; einst floß er schnell, klar und frisch. Vor nicht allzu langer Zeit hatte man hier noch große Fische gefangen, jetzt schien es keine mehr zu geben. Er starrte auf das Wasser hinab und hoffte, die Frau Direktor zufriedengestellt zu haben.
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie mich den Wölfen zum Fraß hinwerfen würden?« sagte Fiona.
»Den Wölfen? Nein!« Er wandte sich ihr zu. »Ich bin kein Werfer. Ich bin einer von denen, die geworfen werden.« Die Kirchenuhr schlug sechs. Sein Arbeitstag war vorbei. Er öffnete seinen Mantel und griff nach der Flasche, die er in der Gesäßtasche trug. »Um diese Zeit genehmige ich mir manchmal einen kleinen Schnaps … Wenn Frau Direktor gestatten wollten.«
»Aber bitte«, sagte Fiona. Sie war überrascht. Sie wußte nicht, daß der alte Mann so an der Flasche hing, doch das erklärte vieles.
Er schraubte den kleinen Becher ab, der den Flaschenhals verschloß, und goß sich reichlich ein. Er bot ihr den Becher an. »Möchten Frau Direktor …«
»Nein, danke, Herr Renn.«
Er hob den Becher behutsam zum Mund, um nichts zu verschütten, und kam ihm mit gebeugtem Kopf entgegen. Die Hälfte trank er in einem Zug, sah sie an, während ihm der Schnaps die Adern wärmte, und sagte: »Ich bin zu alt, um mich auf Vendettas einzulassen.« Eine Pause. »Aber das heißt nicht, daß ich nicht den Mut dazu habe.« Eine Straßenbahn fuhr vorbei. Die Räder kreischten, als die Wagen die Kurve nahmen. »Wollen Frau Direktor nicht doch …?«
»Nein, wirklich nicht. Vielen Dank, Herr Renn.« Er behielt den Becher in der Hand und starrte über den Fluß, als wäre sie nicht da, und als er sprach, war es wie ein Selbstgespräch: »Die meisten Leute auf unserer Etage sind Deutsche, die wollen vor
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