Gelinkt
Anarchist. Fiona fragte sich, ob er das nicht selber merkte. Vielleicht war es ihm inzwischen egal. Von denen, die ihr ganzes Leben lang vergeblich auf das Millennium gewartet hatten, wurden viele zuletzt so fatalistisch. Renns Charakterisierung Pawel Moskwins, »ein brutaler Kerl mit Rückendeckung aus Moskau«, wurde Fiona aus freien Stücken offeriert, noch ehe sie selbst dem Mann begegnete. Und überhaupt nahm Renn kein Blatt vor den Mund, gleichviel, von wem die Rede war. Während der ersten Wochen hatte Fiona den Verdacht, man habe ihr diesen exzentrischen alten Knaben als Agent provocateur ins Büro gesetzt, oder weil sonst keiner mit so einem Sonderling klarkam. Es dauerte aber nicht lange, bis sie begriff, daß die bürokratischen Prozeduren in der DDR das gar nicht vorsahen. Selbst Leute in den höchsten Positionen konnten sich ihre Sekretäre nicht ohne weiteres selbst aussuchen, und der alte Renn wäre als Agent provocateur auch nicht leicht zu führen gewesen. Tatsächlich wurden die Stellen nach einem im Personalbüro vorliegenden Schlüssel ganz routinemäßig besetzt. Ihr Rang gab ihr das Anrecht auf einen Sekretär von Renns Qualifikationen, und Renns bisheriger Chef war eine Woche vor Fionas Ankunft in den Ruhestand gegangen.
Fiona und ihr Sekretär hatten den ganzen Mittwoch in einem kleinen Konferenzzentrum in der Köpenicker Altstadt verbracht. Sie hatte langen und teilweise erbitterten Auseinandersetzungen zwischen ihren Kollegen zugehört. Führungskräfte der Sicherheitsdienste Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns hatten sich dort getroffen, um die noch ziemlich zerstreuten und zersplitterten politischen Reformbewegungen und religiösen Oppositionsgruppen innerhalb des Ostblocks zu erörtern. Übereinstimmung hinsichtlich der Maßnahmen, mit denen solchen Gruppen am besten zu begegnen sei, war nicht leicht zu erzielen. Fiona war sehr zufrieden mit den Informationen, die sie da sammeln konnte. Genau das waren ja die Informationen, auf die es Bret Rensselaer ankam, und die hier geäußerte Besorgnis der kommunistischen Sicherheitsbeauftragten angesichts der Zunahme dieser Oppositions- und Reformbewegungen bestätigte ja Brets Annahme. Sobald eine Verbindung mit London zustande kam, würde sie eine Linie ausgearbeitet haben. Sie ließ sich das Treffen durch den Kopf gehen, während sie auf den Wagen wartete, der sie und ihren Sekretär nach Berlin-Mitte zurückbringen sollte. Die anderen waren von einem Bus aus dem Fuhrpark des Ministeriums abgeholt worden, aber Fiona hatte Anrecht auf einen Dienstwagen. Mehr als irgendwelche sonstigen Requisiten oder Privilegien verlieh der Dienstwagen Status. Und Status zu erlangen war von allerhöchster Wichtigkeit in der DDR. Also warteten sie.
Fiona wanderte zum Fluß hinab, bewunderte die kopfsteingepflasterten Straßen und die winkligen, alten Häuser. Kirche und Rathaus von Köpenick standen von Bäumen umgeben auf einer winzigen Insel der Spree. Auf der nächsten Insel, der Schloßinsel, stand ein reichgeschmückter Bau des 17. Jahrhunderts. In dem prachtvollen Wappensaal dieses Schlosses war gegen Friedrich den Großen wegen Fahnenflucht verhandelt worden. Angesichts der Aussicht, die sich einem hier bot, konnte man nur begrüßen, daß in neuerer Zeit die Bautätigkeit im Osten der Stadt nicht so rege wie im Westen gewesen war. Köpenick sah noch ziemlich so aus wie an dem Tage, an dem der berühmte Hauptmann dort auftrat und entdeckte, wie gläubig die Deutschen eine Uniform verehren, ganz gleich, wer sie trägt.
Sie hatte gehofft, daß die frische Luft ihr helfen würde, ihr Kopfweh loszuwerden. Diese quälenden Kopfschmerzen waren in letzter Zeit einfach zu oft aufgetreten. Natürlich war das der Streß. Aber erträglicher machte dieses Wissen die Schmerzen nicht.
»Herr Renn«, sagte Fiona. Sie nannte ihn nie beim Vornamen. Renn hatte den Verkehr auf der Brücke beobachtet. Bald würden sich im Osten die Autos überall so stauen wie im Westen schon jetzt. Er sah zu ihr hin. »Habe ich etwas vergessen, Frau Direktor?«
»Nein, Sie vergessen nie etwas. Sie sind der tüchtigste Sekretär im ganzen Ministerium.«
Er nickte. Was sie sagte, stimmte, und er bestätigte es nur. »Vertrauen Sie mir, Herr Renn?« Sie sagte das in der bewußten Absicht, ihn zu schockieren.
»Ich verstehe nicht, Frau Direktor.« Er sah sich um, aber außer ihnen stand niemand am Ufer. Es waren nur Leute auf dem Heimweg von der Arbeit oder vom Einkaufen zu sehen. »Ich
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