Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
sie verraten.
Da ich einmal beim Thema «Unterführer» bin, will ich an dieser Stelle eine Episode berichten, die sich erst später, im Juni 1942, auf der Bolschaja Kossolmanka abspielt und deren Hintergründe ich erst 1944/45 erfahre. Die Geschichte sagt viel über die Schizophrenie der sowjetischen Wirklichkeit jener Jahre.
Der Betroffene ist ebenfalls deutschstämmig, heißt Theodor Darlinger, nennt sich aber Fjodor Fjodorowitsch. Niemand weiß, wie er es zum Chef des KWTsch-Punktes geschafft hat und warum die Obrigkeit ihn fast als einen der Ihrigen akzeptiert. Wie sich später herausstellt, ist Darlinger «Deputierter des Obersten Sowjets», ordnungsgemäß in der Autonomen Republik der Wolgadeutschen gewählt. Einstweilen hält er es jedoch für klüger, sich ausschließlich den NKWD-Leuten gegenüber zu erklären, weil sonst publik werden könnte, dass er in Engels, der Hauptstadt dieser Republik, Staatsanwalt war und so manchen seiner lieben Mitmenschen hinter Gitter gebracht hat.
Eines Tages wird getuschelt, Fjodor Fjodorowitsch sei nach Moskau bestellt worden, und tatsächlich landet im Postfach des Lagers Nr. 239 eine über Umwege eingetroffene Einladung zur 9. Tagung des höchsten Sowjetgremiums.
Der Zensor auf der Bolschaja Kossolmanka schickt die Einladung an den Chef der Politabteilung nach Soswa. Der politnik begreift sofort, dass die Angelegenheit kompliziert ist: Lässt man den Mann fahren, verstößt man gegen den von Kalinin unterschriebenen Ukas, der den Aufenthalt von Personen deutscher Nationalität westlich des Ural kategorisch verbietet; untersagte man die Reise, widersetzt man sich einer ausdrücklichen Aufforderung desselben Mannes. Er schickt das Papier weiter an den Lagerchef Wasin, der zunächst cholerisch reagiert: «Was? Einen Fritzen nach Moskau lassen?» Dann lässt er telefonisch beim Chef der Hauptverwaltung anfragen, doch der Genosse General antwortet vorsichtshalber nicht.
Da die Zeit drängt, beruft Wasin einen Krisenstab aus vier Obersten ein, der mehrere Tage beratschlagt. Schließlich wartet der Politnik mit einer salomonischen Lösung auf: Man könne doch diesen Mann in Begleitung zweier Wachsoldaten nach Moskau schicken.
Nun kann man den Mann aber kaum in Sträflingskleidung nach Moskau schicken. Also wird der Abgeordnete mit einer lagereigenen U-2 (ein leinwandbezogener Doppeldecker, in den sich hinter den Piloten noch ein Passagier hineinklemmen kann) nach Soswa gebracht, wo er sich etwas Passendes in der Kleiderkammer aussucht. Dadurch verpasst er aber den Zug und kann erst am nächsten Tag fahren.
Als Darlinger zusammen mit seinen Bewachern in Swerdlowsk eintrifft, herrscht vor den Fahrkartenschaltern Gedränge. Manche warten schon vier oder fünf Tage auf ein Billett. Jedoch gibt es eine Vorzugskasse für Passagiere mit Sonderausweisen, Helden der Sowjetunion und Regierungsmitglieder. Da Darlinger, wenn er mit dem Zug fahren würde, zur Tagung des Obersten Sowjets zu spät käme, wird ihm ungefragt ein Flugticket für die Vier-Uhr-Maschine aus Nowosibirsk gebucht, wo noch einer der beiden «Kurierplätze» frei ist. Die Soldaten wissen nicht, was sie tun sollen. Einer sucht den NKWD-Bevollmächtigten auf dem Flughafen, kann ihn aber nicht finden. Schließlich wird vereinbart, dass man sich nach Abschluss der Sitzung des Sowjets am Lenin-Mausoleum trifft.
In Moskau angekommen, eilt Darlinger zum Kreml. Am Troizki-Tor, durch das Fußgänger eingelassen werden, kommen ihm scharenweise Menschen entgegen. Aus ihren Gesprächen entnimmt er, dass es Abgeordnete des Obersten Sowjets sind, die ihre Pflicht erfüllt haben und schon auf dem Heimweg sind. Die Sitzung hat nämlich nur zwei Stunden gedauert. Auf der Tagesordnung hatte nur ein einziger Punkt gestanden: die Ratifizierung des britisch-sowjetischen Bündnisvertrages. Als seine beiden Bewacher nach vielen Schwierigkeiten in Moskau eintreffen, befindet Darlinger sich längst wieder auf dem Rückweg …
Das Ende der Geschichte: Drei Wochen später trifft auf der Bolschaja Kossolmanka eine Einladung des Vorsitzenden des Swerdlowsker Gebietsexekutivkomitees für den Genossen Abgeordneten ein. Endlich, glaubt er, hat man das ihm angetane Unrecht erkannt. Überzeugt davon, nie mehr ins Lager zurückkehren zu müssen, gibt er sogar seine Holzpantoffeln weg (genauer: er tauscht sie gegen eine Handvoll machorka ). Dieses Mal darf Fjodor Fjodorowitsch ohne Bewachung fahren. An einem strahlenden Julitag erscheint er
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