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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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werden. Der Taigaboden ist jedoch voller Kuhlen und Schneelöcher, überall liegen verfaulte oder vom Sturm zersplitterte Bäume herum, aus dem Sumpf gehebelte mannshohe Wurzelgeflechte und den Weg versperrende Büsche, Sträucher, Baumkronen. Kein Wunder, dass die Schlepptiere stehen bleiben, kaum dass sie zwei, drei Schritte gemacht haben, weil sich der von ihnen geschleifte Stamm irgendwo verhakt oder verkantet. Doch wird dem geschundenen Tier (von dessen Leistung ja die Normerfüllung des Treibers abhängt) kein Verschnaufen gegönnt. Es wird, sobald es erstarrt, mit blutrünstig-obszönen Flüchen überhäuft (alle trelljowstschiki sind heiser) und erbarmungslos geprügelt. Die Pferdeführer lassen ihre ganze Wut an den unschuldigen Geschöpfen aus, denen sie die Hälfte ihres schmal bemessenen Hafers wegfressen, sodass sie stark genug sind, um mit schweren Knüppeln auf die hilflosen Vierbeiner einzudreschen. Ich hasse die trelljowstschiki und könnte über die geprügelten Pferde heulen. Sie sind vielleicht die meistgeschundenen Kreaturen auf dieser Welt – viel schlimmer als die eingekerkerten Menschen, die ja sprechen, fluchen und vor allem hoffen können, irgendwann einmal aus der Taiga hinauszukommen. Ein paarmal sehe ich das Martyrium dieser Geschöpfe aus nächster Nähe. Mir scheint, dass sie – wie ich – keinen Schmerz mehr empfinden, sie ziehen ihre Last nicht, weil sie den Schlägen entgehen wollen, sondern einfach, weil es in dieser verteufelten Welt weitergehen muss. Nur in ihre Augen darf man nicht blicken.
    Eines Abends, als ich wieder mal die Qual eines dieser gepeinigten Tiere mit angesehen habe, krame ich in meinem Bündel und finde die letzte noch aus Moskau stammende Postkarte, mit aufgedruckter Briefmarke sogar (unsere Briefe brauchen – als «Feldpost» – neuerdings keine Briefmarken mehr). Ich schreibe an Veronika: Liebe Grüße, mir geht es den Umständen entsprechend gut – und füge einen Satz über die Schleppgäule an, denen es ganz anders ergehe als den munteren kasachischen Steppenpferden.
    Nach vier oder fünf Wochen bekomme ich Antwort. Es ist für lange Zeit die letzte Nachricht von Veronika. Sie schreibt mir, dass sie wieder unter der Krankheit leidet, von der sie vor meiner Abreise befallen war. Das ist mir unverständlich. Ich versuche mich zu erinnern, woran sie litt, kann mich aber nicht entsinnen. Sie hatte höchstens mal einen kleinen Husten oder Schnupfen. Doch lohnt es sich, das in einem sehnsüchtig erwarteten Brief zu erwähnen? Erst viereinhalb Jahre später werde ich erfahren, was mit der «Krankheit» gemeint war.

BOLSCHAJA KOSSOLMANKA
    Zu den ungeschriebenen Gesetzen des Lagers gehört, dass die Inhaftierten oder eben wir, die Arbeitsarmisten, ständig von einem Lagpunkt auf einen anderen verfrachtet und auf diese Weise ständig durcheinandergemischt werden. Damit verhindert die Leitung, dass sich die Sträflinge näher kennenlernen, Freundschaften schließen oder gar Fluchtpläne aushecken. Aus dem gleichen Grund wird auch der Austausch von Botschaften zwischen den Insassen verschiedener Lagpunkte unterbunden. Aus unserer Zone kann man zwar (zumindest theoretisch) einen Brief nach Wladiwostok senden, doch wäre es – selbst wenn wir Schreibpapier auftreiben könnten – nicht möglich, dem Bruder oder Vater, der vielleicht 20 Kilometer entfernt auf einem anderen Lagpunkt sitzt, eine Nachricht zukommen zu lassen. Die mobilisierten Deutschen erfahren – wenn überhaupt – nur aus Briefen ihrer Angehörigen in Kasachstan, wo sich ihre Verwandten befinden und wie die Bedingungen dort sind. Dabei gedeihen natürlich Gerüchte über Vorkommnisse in anderen Lagereinheiten.
    Das Durcheinandermischen ist auch deshalb für die Lageradministration von Vorteil, weil sich so leichter Zuträger in die Brigaden beziehungsweise in die Baracken einschleusen lassen. Es fällt nicht auf, wenn hier ein denunzierter Häftling verschwindet oder dort ein neuer Denunziant auftaucht.
    Im Grunde gilt das gleiche (allerdings etwas abgemilderte) Verfahren auch für die NKWD-Offiziere, die von einem Lagpunkt zum nächsten versetzt werden. Das hat übrigens verheerende Folgen für die Bereitstellung des Nutzholzes und folglich für die Planerfüllung des gesamten Lagers. Beispielsweise gibt der erste Chef des neu eröffneten Lagpunktes Borowljanka die Order aus, nur die ertragreichsten Bäume zu fällen, sodass die Norm des Lagpunktes übererfüllt wird. Zur Ausbeutung eines

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