Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
im Vorzimmer des Gebietschefs. Die Sekretärin überfliegt seine Einladung und fragt: «Sie sind Mitglied des Obersten Sowjets?»
«Jawohl.»
«Besitzen Sie auch einen Abgeordnetenausweis?»
«Aber natürlich.»
«Dürfte ich ihn mal sehen?»
«Gewiss doch. Bitte sehr.»
Die Vorzimmerdame nimmt den Ausweis, schaut dem Mann, das Lichtbild auf dem Dokument vergleichend, ins Gesicht, öffnet das Schreibtischfach und wirft das Papier hinein. «Das war’s, Sie können gehen.»
HUNGER
Doch zurück zum «Schwarzen Flüsschen». Die Erinnerungen an die folgenden zwei Monate, die ich dort verbringe, sind seltsamerweise ziemlich verblasst. Mein Gedächtnis hat nur unzusammenhängende, gleichsam aus einem Nebel heraustretende Bruchstücke aufbewahrt. Die Ursache dafür ist der Hunger.
Es ist unmöglich, meinen damaligen Zustand zu beschreiben – ich kann ihn auch heute keiner Kategorie der Wahrnehmung, der Empfindung, des Erlebens zuordnen. Ich bin einfach leer, bewege mich schemenhaft, habe das Gefühl, mich in einer unwirklichen Welt zu befinden. Das Bedürfnis, etwas Essbares zu sich zu nehmen, hat sich gewandelt. Es ist ein ganz anderes als im Viehwagen auf der Herfahrt. Dort und auch an den ersten Tagen nach der Ankunft schien es mir, als ob sich mein Magen krümme, ich ihn ausspucken müsse, wenn nichts hineinkäme. Ich wollte etwas im Mund spüren, etwas kauen, schlucken und träumte von irgendwelchen Speisen. Das ist jetzt vorbei.
Gewiss bin ich auch nach wie vor auf Brot fixiert – meine Zeitrechnung beschränkt sich aufs das Zählen der Stunden bis zur nächsten morgendlichen Brotausgabe (Mittags sage ich mir: noch 18 Stunden, abends: noch acht Stunden). Aber die Lust am Essen ist geschwunden. Ich träume nicht mehr davon, mich irgendwann einmal satt essen zu können, verschwende keine Gedanken mehr an solche Illusionen. Überhaupt spüre ich, dass meine Denkprozesse gestört sind. Vor meinem inneren Auge hat sich eine Wand aufgebaut, die die Dinge zurücktreten lässt und sie in Schatten verwandelt. Das gilt auch für Vorgänge, an denen ich selbst beteiligt bin. Das Gehirn sträubt sich, Wahrgenommenes zu verarbeiten. Der Anreiz fehlt, das Interesse erlischt.
Im Grunde bin ich, wenn ich so zurückdenke, gespalten. Einerseits funktioniere ich noch, trotte in den Wald, ziehe die Säge hin und her, wickle abends meine Fußlappen ab. Andererseits gehe ich gewissermaßen neben mir her und beobachte mich wie einen Fremden. Unbeteiligt sage ich von mir selbst: «Jetzt friert er , das tut ihm weh, nun muss er sich setzen.» Vielleicht ist es mein Glück, dass mein Alter Ego nicht nur solche Feststellungen trifft, sondern auch unklare Erinnerungen an die reale Welt bewahrt – an den Wellenschlag der Meere, an Veronika, an Studienträume. So undeutlich diese Bilder sind, sie richten mich auf. Als beträfe es einen Dritten, murmele ich vor mich hin: «Zusammenbrechen wird er nicht, da muss er durch, auch das wird ein Ende nehmen.»
Einen solchen Zustand habe ich nie wieder erfahren, auch nicht im Winter 1942/43, als der Hunger schlimmer wütet als in meiner Zeit am «Schwarzen Flüsschen». Woran das liegt, ist mir selbst ein Rätsel. Womöglich habe ich mich, so zynisch das klingt, an den Hunger gewöhnt und gelernt, mit ihm umzugehen. Das mich unsichtbar begleitende andere Ich hat den Überlebenswillen offenbar bis zum Letzten herausgefordert und in mir schlummernde Fähigkeiten mobilisiert, mit deren Hilfe ich jeden Schritt, jede kleinste Handlung auf das einzige Ziel ausrichtete: überleben. Und natürlich hat der Zufall immer eine entscheidende Rolle gespielt.
Wenn ich mich recht entsinne, bringen wir es, nachdem wir uns nun unser Brot mit der Erfüllung der Norm erarbeiten müssen, auf 500 Gramm Brot pro Tag. Das ist nur eine Handvoll, denn das Brot ist nass, glitschig und unansehnlich. Wenn ich es erhalte, beginne ich mit mir selbst zu kämpfen – eine Stimme befiehlt mir, die labbrige Masse sorgfältig durchzukauen, eine andere treibt mich an, sie gierig hinunterzuschlingen.
Weitere Bruchstücke meiner Erinnerung sind die Kälte und die Dunkelheit auf dem Weg zur Arbeit, das Entfachen der schwelenden Glut an der Brandstätte des Vortages (eine Katastrophe, wenn sie verglimmt ist!), wie wir unsere erstarrten Hände über die endlich aufzüngelnden Flammen strecken. Wir werden bis 35 Grad minus zur Waldarbeit herausgeführt (bei Wind bis 30). Eine oder anderthalb Stunden vor Ende des Arbeitstages
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