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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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bin ich völlig ausgelaugt und schleppe mich zu einem Baumstamm an der Feuerstelle. Mir ist es egal, ob wir die Norm erfüllen oder nicht und ob wir wenigstens 90 Prozent (dies entspricht 500 Gramm Brot) geschafft haben. Ich kann die Arme nicht mehr bewegen und muss mich niederlassen. In das verschwitzte Hemd kriecht die Kälte, und mir graut vor dem Rückmarsch, wieder im Dunkeln, aber da lockt die Abendsuppe (wenngleich es nur Wasser ist) und die rettende Pritsche.
    Jahre später lese ich in «Die Insel Sachalin» von Tschechow, dass die Häftlinge 1893 «das äußerste Maß der Erniedrigung erfuhren, Brot aber in ihren Baracken herumlag»  14 .
    Wir arbeiten in Gruppen zu sechs Mann – vier fällen Bäume, zwei hacken die Äste ab und verbrennen sie. Zum Ästeabhacken bin ich schlecht geeignet, weil ich einen Augenfehler habe und nicht mit einem präzisen Hieb auskomme (ich muss zwei- oder dreimal zuschlagen). Unterschwellig habe ich auch Angst, mich zu verletzen. Also werde ich als Holzfäller eingeteilt. Mein Partner, ein ziemlich undurchsichtiger Typ aus Baku, heißt König. Er malträtiert mich ständig, weil ich mich angeblich nicht umsichtig anstelle, die Säge nicht gerade halte oder auf sie drücke, usw. Sein bösartiges «Intellektuellenfratze» klingt mir noch heute im Ohr. Nach einer Weile schlägt diese Antipathie in offene Feindschaft um. Als König zum zweiten Mal die unter seinem Bündel auf der Pritsche versteckte halbe Brotration geklaut wird, verdächtigt er mich. Mit der Ganovenwelt vertraut, beschmiert er einmal die Kanten mit Kopierstift und verlangt von mir, als wir abends in die Baracke zurückkommen, kräftig auf ein Stück Papier zu beißen. Er will mich vor versammelter Mannschaft als Dieb entlarven (wird bei den Kriminellen ein Dieb auf diese Weise gestellt, wickelt man ihn in eine Decke und prügelt ihn halb- und manchmal auch ganz tot). Ich empfinde diese Prozedur als den Gipfel der Erniedrigung, muss mich ihr aber unterziehen. Das zerkaute Papier weist keine violetten Spuren auf, doch verzeihe ich König diese Entwürdigung nie. Und er grollt mir seltsamerweise, weil ich seinen Verdacht nicht bestätigt habe. Nach diesem Zwischenfall tauschen wir die Partner – sonst hätte unsere Brigade nicht einmal 90 Prozent der Norm erfüllt. Beim Essen aber hört die Gemütlichkeit auf.
    Einer der Ästeverbrenner ist ein Student namens Geck, der wie ein Pony herumhüpft und dabei ununterbrochen flucht oder uns vorrechnet, wie man mit welchen Koeffizienten die Normerfüllung aufbessern kann. Brauchbar sind aber seine Anregungen nicht. An die übrigen drei Leute unseres Teams erinnere ich mich nicht.
    Die Sechsergruppen der Ex-Kulaken bestehen zumeist aus Verwandten. Da sind vier Brüder Kirsch, die noch zwei Neffen oder Onkel zu sich genommen haben, vier Brüder Japs, drei oder vier Brüder Brauer. Ihnen geht die Arbeit leichter von der Hand als uns Städtern. Sie sind körperliche Anstrengung gewohnt. Wenn man sie, was manchmal möglich ist, zwischen den Bäumen hindurch sieht, kann man den Eindruck haben, sie seien «normale» Forstarbeiter. Bei ihnen wird gehänselt und gelacht, zuweilen sogar gekocht. Das unterscheidet ihre und unsere Welt. Noch immer verfügen sie über Proviantvorräte. Da sie die Norm erfüllen, erhalten sie zudem 600 Gramm Brot. Unter hiesigen Bedingungen sind 100 Gramm Brot mehr fast eine Lebensversicherung.
    Die Bäume, die wir fällen, bleiben, wenn sie abgeästet sind, liegen – sofern es sich um Nutzholz handelt. Brennholz zersägen und stapeln wir selbst. Mit einem Abstand von zwei, drei Tagen folgt uns, den Fällern, die aus acht oder zehn Einspännern bestehende Brigade der trelljowstschiki (das russische Wort trellewat geht wahrscheinlich auf das englische to trail , also schleppen, zurück). Die trelljowstschiki schleifen die Stämme mit ihren Pferden zu zentralen Punkten (Tabor oder Nest genannt), wo sie vorbearbeitet, das heißt zurechtgehauen, oder aber für den Abtransport bereitgestellt werden.
    Mit den Leuten vom Abtransport kommen wir nicht in Berührung. Dafür hören wir fast täglich, wie die trelljowstschiki einige hundert Meter von uns entfernt ihr Soll erfüllen. Ihre Arbeit besteht zu 50 Prozent darin, die Pferde anzubrüllen, und zu 25 Prozent darin, die armen Viecher zu schlagen. Am Geschirr der Gäule sind Ketten angebracht, an denen, um die Stämme geschlungen, die sechs oder acht Meter langen Stämme durch das Gelände gezerrt

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