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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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Jagens werden jedes Mal Gleise für die Schmalspurbahn beziehungsweise für handgeschobene Loren verlegt und nach Beendigung der Arbeiten wieder abgerissen (um im nächsten Jagen verlegt zu werden). Es wäre also viel ökonomischer, die einmal gelegten Gleise dazu zu nutzen, einen Jagen vollständig abzuholzen. So aber muss der nächste Chef die Gleise zur weiteren Abholzung eines Jagens wieder neu verlegen lassen. Aber auch dieser Chef holzt nur die besten der verbliebenen Bäume ab. Schließlich wird der dritte Chef an die Borowljanka beordert. Der muss wiederum Nebenstrecken und Abzweige an genau denselben Stellen errichten, wo sie schon einmal gelegen hatten, um die übrig gebliebenen dünnen, schiefen und verwachsenen Bäume abholzen zu lassen, die aber bei weitem nicht das Plansoll erbringen.
    In den Forstlagern erfolgt der Abzug und die Verlegung der Waldarbeiter an einen anderen Ort aber auch saisonbedingt, weil der sommerliche Holzeinschlag in den versumpften Gebieten nicht möglich ist. Davon wissen wir, die wir uns am «Schwarzen Flüsschen» irgendwie durchzuhungern versuchen, allerdings nichts. Wir sehnen nur das Ende des Winters herbei. Vage Hoffnungen wecken die ersten Frühlingsboten, die die Sonne in den letzten Februartagen auf den nach Süden gekehrten Barackendächern hinzaubert. Diese Boten sind klobige Eiszapfen, die desto unwirklicher anmuten, weil man, bei klirrendem Morgen- und Abendfrost auf dem Appellplatz stehend, nicht mitbekommt, wie es tagsüber taut und tröpfelt.
    Der März bringt spürbar längere Tage, aber das Thermometer bleibt hartnäckig im Minusbereich. Manchmal zeigt es beim Morgenappell noch immer 20 oder 25 Grad unter null. Anfang April kommt schon in den Mittagsstunden Tauwetter auf. Über Nacht bedecken sich die kahlen Weidenbüsche an unserem Weg mit flauschig schimmernden Kätzchen – ein Daseinshauch in der leblosen Ödnis. Das nun vom Schnee befreite Geäst der Bäume wirkt allerdings – schwarz knorplig – noch trostloser als im Winter. Mit der sich langsam ankündigenden Wärme bilden sich nun endlich Knospen an den strauchhohen Linden am Wege. Ich reiße mir ab und zu eine Knospe ab und stecke sie in den Mund, das stillt den Hunger, jedenfalls bilde ich mir das ein. Der Lindensaft, so erzählt man, soll sogar vitaminreich sein.
    Mit der allmählich höher steigenden Sonne verbessern sich jedoch unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen nicht. Während sich in der Zone die Freiflächen in graubraunen Schlamm verwandeln, liegt im Walde noch kniehoch Schnee. Darunter rieselt eiskalt das Schmelzwasser. Bald brechen wir bei jedem Schritt ein – nass und schwer hängt das Schuhwerk an den Füßen.
    Unweit des Lagpunktes hat sich zu allem Unglück auch noch ein Bach gebildet, den wir auf unserem täglichen Marsch durchqueren müssen. Schon vor Arbeitsbeginn völlig durchnässt, zerfallen meine geflickten Filzstiefel nach wenigen Tagen. Für alles ist jedoch gesorgt – ich bekomme Trampler aus alten Autoreifen und kann froh sein, einigermaßen intakte Fußlappen zu haben. Oft werden auch Fußlappen in der Nacht geklaut, während sie trocknen sollen.
    Zwei Wochen später ist der Schnee im Wald zerronnen, doch auf dem Trampelpfad, über den wir uns im Gänsemarsch durch die Taiga schieben, halten sich beharrlich festgetretene Reste der nur langsam schmelzenden Eisschicht. Rutscht man von den glitschigen Buckeln ab, bleibt man bis zum Knie im aufgeweichten Erdreich stecken. Im Grunde ist es egal – die Füße sind ohnehin nass, und beim Sägen steht man den ganzen Tag im eiskalten Wasser.
    Ende April wird uns ein neuer Jagen zugewiesen, weil sich das alte Waldstück in Sumpf verwandelt. Das Feuer schleppen wir aus der Zone an einem verrotteten Strick mit, dessen Ende glimmt und deshalb nicht in eine Pfütze fallen darf. An der neuen Stelle ist die Norm nicht zu schaffen, die Bäume dort sind dünn, schief und mickrig. Trotz Schummelei bringen wir es gerade mal auf 75 Prozent der Norm – nach drei Tagen drohen uns 400 Gramm Brot. Aber Gott – oder der Zufall? – ist uns gnädig. Plötzlich heißt es für unsere Kompanie: «Abmarsch! Die Leute werden verlegt.»
    Auf der Bolschaja Kossolmanka, wohin wir dirigiert werden, lassen sich die Dinge zunächst hoffnungsvoll für mich an. Am wichtigsten empfand ich natürlich, dass ich der 400-Gramm-Keule entgangen bin. Ein bisschen kenne ich mich nun schon im Lageralltag aus. Zudem beflügelt mich, so seltsam das anmutet, das

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