Gemeinsam stark in Virgin River (German Edition)
habe ich viele Kratzer und Abschürfungen abbekommen.“
„Und weshalb sind Sie da weggegangen?“
Er hob die Achseln. „Es war Zeit, weiterzuziehen. Höchste Zeit – ich bin fünfunddreißig.“
Sie aß noch mehr Popcorn. Dann sagte sie nachdenklich: „Sie können jetzt aufhören, sich dafür zu schämen, dass Sie reich aufgewachsen sind.“ Als er ihr einen schockierten Blick zuwarf, sagte sie: „Wenn ich mich nicht dafür schäme, in Armut aufgewachsen zu sein, weshalb sollten Sie sich dann schämen, dass Sie reich waren? Ich finde es eigentlich sogar ganz cool. Sie sollten das nicht geheim halten.“ Dann lächelte sie ihn an.
„Darf ich Sie etwas fragen?“, sagte er. „Sind Sie sehr einsam aufgewachsen?“
„Wie bitte? Um Himmels willen. Nein. Ich hatte vermutlich sogar zu viele Freunde. Natürlich saßen die meisten meiner Freunde im selben Boot wie ich – keinen Pfennig zum Sparen übrig, keinen Ort, wo man hingehen konnte, nicht mal in der Schule durften wir bleiben. Aber mit meiner Oma und den ganzen Freundinnen ging es mir gut. Später, nachdem ich eine alleinerziehende Mama von zwei Kindern geworden und meine Oma gestorben war, fühlte ich mich eine Zeit lang ziemlich alleine. Aber ich war fast nie wirklich alleine. Ich hatte immer viele Freunde. Ich beneidete die Mädchen, die gute Noten und coole Klamotten hatten und zu einer Menge Partys und so gingen, aber einsam war ich nie.“
„Gaben Ihre Freunde denn keine Partys?“
Sie lächelte nachsichtig. „Nein, Noah. Wir hingen immer nur irgendwo herum. Normalerweise auf dem Parkplatz vom Supermarkt.“
„Warum haben Sie keine guten Noten bekommen?“, fragte er.
„Manchmal ging es so einigermaßen, aber ich hatte seit meinem vierzehnten Lebensjahr immer mindestens einen Job nebenbei. Als Ganztagsbabysitter, Putzfrau, Kellnerin. Es gibt fast nichts, was ich nicht gemacht habe. Ich habe gearbeitet, als ich schwanger war, und ich habe gearbeitet, als die Babys noch klein waren. Meine Großmutter hat bis zu ihrem Tod auf sie aufgepasst. Aber ich habe immer gearbeitet – entweder direkt nach der Schule bis nachts oder an den Wochenenden. Oder beides. Da blieb nicht viel Zeit, in die Bücher zu gucken.“
Er wusste, wovon sie sprach, auch wenn er nie Elternteil von zwei Kindern gewesen war, als er gearbeitet und studiert hatte. „Ellie, Sie sind klug“, sagte er. „Sie sind intuitiv. Sie besitzen einen gesunden Menschenverstand. Ich glaube, Sie können wirklich alles.“
Sie lachte. „Ich habe schon fast alles gemacht, erinnern Sie sich?“
„Ja. Stimmt“, sagte er und erwiderte ihr Grinsen. „Und jetzt arbeiten Sie für eine Kirche. Gott schlottert sicher schon vor Angst.“
„Ganz sicher.“
„Ich gehe jetzt besser. Wir sehen uns morgen.“ Er stand auf. „Nehmen Sie und die Kinder mich denn nun am Samstag mit?“
„Ich denke mal drüber nach. Aber Sie müssen versprechen, sich zu benehmen.“
„Danke. Da habe ich wenigstens etwas, auf das ich mich freuen kann.“
Er stand im Türrahmen, und sie hielt die Tür auf. „Noah? Seit wann haben Sie keinen Kontakt mehr zu Ihrem Vater?“
„Oh, Gott“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Wir kommen nicht miteinander aus, seit ich klein war. Er war ständig enttäuscht von mir.“
„Aber seit wann genau, Noah? Wann haben Sie aufgegeben?“
Er blickte in ihre großen Augen. Woher wusste sie, was sie wusste? Hatte ihre Großmutter ihr so viel Instinkt vererbt? Oder war sie einfach nur eine alte Seele? „Als er nicht zur Beerdigung meiner Frau gekommen ist“, antwortete Noah.
Und bevor Ellie darauf reagieren konnte, verschwand er über die Treppe in der Nacht.
Im Weggehen dachte Noah, dass alles falsch gelaufen war. Es war nicht der richtige Weg, einem Freund von der Vergangenheit zu erzählen. Ihm fiel auf einmal auf, dass Ellie wirklich eine echte Freundin geworden war. Wenn man jemanden fragte, ob man seine begrenzte Zeit mit den Kindern teilen durfte, dann war das Freundschaft.
Ja. Sie war seine Freundin. Sie hatte ihm ihre persönlichen Erlebnisse anvertraut, so unangenehm sie auch gewesen sein mochten. Doch das Merkwürdige und gleichzeitig Bewundernswerte an Ellie war, dass sie zwar nicht wollte, dass die Stadt Einzelheiten aus ihrer Vergangenheit erfuhr, sie sich aber auch nicht dafür schämte. An so etwas verschwendete sie ihre Energie erst gar nicht. Für eine junge Frau mit einer solchen Vergangenheit fühlte sich Ellie erstaunlich wohl in ihrer Haut.
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