Gemischte Gefühle
einmal mit einem dicklichen österreichischen R e zensenten, dessen Fachwissen sich in Sendedaten und Sta b angaben erschöpft (die Fähigkeit der Analyse verlangt man von ihm nicht, da er für eine Boulevard-Bildschirmzeitung schreibt), flirtet hier und da mit Leuten, die ihr sympathisch (oder wichtig) sind, achtet darauf, daß sie sich nicht allz u sehr betrinkt, beobachtet zu vorgerückter Stunde, wie sich der Saal leert und vereinzelte Pärchen oder Grüppchen sich in Nebenräume zurückziehen, schnuppert den blauen Duft anregender Glimmstengel, verwünscht i h ren Manager, der dem verträumt aussehenden Spitze n fantasten beinahe auf den Schoß kriecht, schläft zwische n durch ein wenig ein und freut sich am nächsten Morgen, als sie erschöpft nach Hause fliegt (man hat inzwischen einen anderen Helikopter aufg e trieben), daß niemand sie b e schmutzt hat.
Als Hirschmann aufwachte, war es tiefe Nacht. Er wühlte sich aus den Decken, knipste das Licht an und erkannte an dem häßlichen Rauschen, das sich in seinem Gehirn brei t machte, daß das Programm beendet war. Ein rascher Griff nach dem Armbandsteuergerät brachte den schmerzenden Zellen Frieden.
Er hatte Hunger und Durst. Die Wohnung lag still vor ihm, aber dennoch wagte er nicht in die Küche zu gehen, aus Angst, seine Frau könnte wach werden und ein Gespräch mit ihm anfangen. Sie tat das manchmal; besonders dann, wenn sie das Klicken der Kühlschranktür hörte und annahm, daß er sich an Dinge heranmachte, die sie für sich und die Ki n der eingekauft hatte.
Hirschmann nahm leise die im Korridor abgestellte A k tentasche an sich, öffnete sie und durchwühlte die Butte r brotdose. Im allgemeinen brachte er immer noch ein Brot aus dem Dienst mit. Aber heute hatte er Pech. Leise mu r melnd ging er ans Fenster, zog die Übergardinen beiseite und warf einen Blick auf die Straße. Sie hatten Glück g e habt, daß sie zu den ersten Mietern des zweitausend Einhe i ten umfassenden Wupperzentrums gehörten. Damals hatte man sich die Wohnungen noch aussuchen können, und er hatte es – durch einige Beziehungen, gewiß; die Normalmi e te wäre viel zu hoch für ihn gewesen – geschafft, ein Auße n seitenapartment zu bekommen. Die Stadt lag still unter ihm. Gelbe Leuchten bedeckten die hellen Steinplatten unter ihm mit einem beinahe magischen Schein. Ein Mann, dessen Kleidung den Eindruck machte, als hab e e r damit in der Gosse geschlafen, kam langsam auf den Haupteingang zu.
Hirschmann kniff die Augen zusammen. Wollte dieser Penner etwa …? Er hatte den Zeigefinger schon auf der G e gensprechanlage, um den Hausmeister zu alarmieren, als er den Mann erkannte. Er hieß Gerber und wohnte im zwölften Stock.
Kurz nachdem er verschwunden war, entdeckte Hirsc h mann einen zweiten Hausbewohner: ein schlaksiger, hoc h aufgeschossener junger Mann mit wirren Haaren und langen Armen, der sich wie ein tänzelnder Affe bewegte. Auch ihn kannte Hirschmann. Er hieß Christian und war der Sohn i r gendeiner Putzfrau, die mit ihrem arbeitslosen Ehemann seit einigen Jahren irgendein winziges Innenapartment bewoh n te. Was suchte der Bursche um diese Zeit noch auf der Str a ße?
Bei dem Gedanken, daß er vielleicht zu einer der Banden gehörte, die an den Wupperufern ihr Unwesen trieb, mußte Hirschmann frösteln. Rasch zog er die Gardine wieder vor, verdrängte den Gedanken an seine Frau und ging gerad e wegs in die Küche. Als er sich ein Brot schmierte, fiel sein Blick auf eine der Zeitschriften, die seine Frau zu lesen pflegte. Eine der Überschriften im Innenteil lautete: O B SZÖNER SEX IST, WENN MAN MIT OFFENEM MUND KÜSST.
Hirschmann seufzte. Für sein Problem gab es keine L ö sung, nur Konsequenzen. Er aß sein Brot, trank ein Glas fettarme Milch, schlüpfte in einen Mantel und ging hinaus. Er wußte nicht, was ihn antrieb, aber er hatte das Gefühl, daß er irgend etwas verpassen würde, wenn er jetzt ins Bett zurückkehrte. Als er das Wupperzentrum verließ und sich den Weg durch die Fußgängerzone bahnte, fiel sein Blick auf die Schaufensterscheibe eines Kaufhauses. Jemand hatte mit einer Sprühdose eine Parole darauf geschrieben.
ES IST DEN REICHEN UND DEN ARMEN GLE I CHERMASSEN UNTERSAGT, UNTER DEN WUPPE R BRÜCKEN ZU SCHLAFEN.
DAS WETTER: FREUNDLICH
Nach Auflösung von starkem Dunst oder Frühnebel meist sonnig. Niederschlagsfrei. Anstieg der Tagestemperaturen auf 16 Grad, am Sonntag bis 18 Grad. Nachts Abkühlung auf 6 bis 3 Grad, am
Weitere Kostenlose Bücher