Gemischte Gefühle
Reporter und alte Menschen waren ihm ein Greuel. Parties und kreischende Teenager verabscheute er. Sein Hauptinteresse galt dem Schach. Täglich spielte er mindestens eine Stunde mit einem Computer, und bis vor vier Wochen hatte noch ein bekannter Großmeister zum Betreuerteam gehört. Fernsehen und Kino hatten Ralfs I n tere s se nie geweckt. Dagegen verschlang er alle Bücher über Biologie, die er bekommen konnte. Skifahren b e schäftigte ihn nur insoweit, als es seine eigene Person b e traf.
Eigentlich war er für seine Umgebung ein völliges Rä t sel. Über seine Pläne, Hoffnungen und Wünsche sprach er nur ausweichend. Auf direkte Fragen antwortete er nicht.
Er war allen Menschen gegenüber mißtrauisch. Helga g e genüber war er es besonders lange gewesen. Vor drei Mon a ten hatten sie zum erstenmal miteinander geschlafen. Seine Beziehung zu ihr kam Helga oft sehr merkwürdig vor. Mal kam sie sich wie seine Mutter vor, dann wieder wie eine alte Freundin, und gelegentlich war sie auch seine Geliebte. Wenn letzteres der Fall war, nahm er sie dermaßen in A n spruch, daß sie anschließend groggy war.
Vor fünf Tagen hatte er die letzte Nacht mit ihr verbracht. Danach hatte Dr. Mandel begonnen, ihn mit sextötenden Mitteln zu behandeln. Es hatte sich herausgestellt, daß Ralf im Rennen bessere Leistungen erbrachte, wenn er zuvor s e xuell enthaltsam gelebt hatte.
Und in dieser Nacht vor fünf Tagen war er erstmals aus sich herausgegangen und hatte ihr einen Blick in sein Inn e res gestattet.
Sie lag eng an ihn geschmiegt. Und wieder hatte sie das G e fühl, daß er mit seinen Gedanken ganz weit fort war, in einer Welt, zu der sie keinen Zutritt hatte.
„ Was wirst du tun, wenn du die WM gewinnst? “
„ Ich werde mit dem Skifahren aufhören. “
„ Und was wirst du dann tun? “
Sein Gesicht war seltsam leer. „ Ich werde mir eine Farm kaufen “ , sagte er fast unhörbar, „ und dann werde ich die besten Vollblüter züchten, die es je gegeben hat. “
„ Du willst Pferde züchten? Seit wann interessierst du dich für Pferde? “
„ Seit zwanzig Jahren. “
Sie sah ihn verwirrt an. Niemand aus seiner Umgebung hatte das auch nur geahnt.
„ Mein Vater nahm mich vor zwanzig Jahren zum Galop p rennen nach München mit. Ich war sofort fasziniert und ler n te reiten. Im Sommer ritt ich, und im Winter fuhr ich Ski. Ich wollte ein zweiter Lester Pigott werden oder ein zweiter Franz Klammer. Aber den Traum von einer Jocke i laufbahn mußte ich begraben, als ich zwölf war. Da war ich fast so groß wie heute und wog sechzig Kilo. “
„ Das muß ziemlich bitter für dich gewesen sein. “
„ Ich konzentrierte mich dann ganz aufs Skifahren. Ich wollte Olympia-Sieger werden. Und das schaffte ich. “
„ Und jetzt willst du Profi-Weltmeister werden. “
Er nickte. „ Ich wollte immer so viel Geld verdienen, daß ich den Rest meines Lebens nicht mehr Arbeiten muß. Das habe ich erreicht. “
Und was wird aus mir, wollte sie fragen. Was wird aus mir, wenn du gewinnst? Aber sie hatte Angst die Frage zu stellen, da sie die Antwort zu wissen glaubte.
Ralf blickte auf, als Peter Sullivan eintrat und sich hi n setzte.
„ Nervös, Ralf? “
„ Nein. Das werde ich erst morgen vor dem Start sein. “
Peter zögerte einen Moment. „ Ich habe Carol Wigham getroffen. Sie will dich morgen interviewen. “
„ Ich wußte, daß sie kommen würde. Wir sind uns sehr ähnlich. Sie hat ebensowenig Illusionen wie ich. Wir beide kennen die Menschen. Sie ist eine faszinierende Frau, und einer der wenigen Menschen, die ich wirklich gern habe. “
„ Weshalb haßt du eigentlich die Menschen, Ralf? “
Ralf warf den Kugelschreiber auf den Tisch. Er hörte Helgas rasches Atmen.
„ Das kann ich dir sagen, Peter. Ich war ziemlich naiv, als ich zum Skizirkus stieß; ein kleiner dummer Junge, für den die Welt noch heil war. Ich war gutgläubig und wollte Spi t zenfahrer werden. Doch es dauerte nur wenige Wochen und ich wußte was gespielt wurde. Alle wollten berühmt werden, und alle waren nur hinter dem Geld her. Je öfter sie in der Zeitung standen und von schwachsinnigen Reportern hoc h gejubelt wurden, um so glücklicher und eingebildeter wu r den sie. In ihrer Armseligkeit waren sie abstoßend und w i derlich. Alle. Die Fabrikanten, die hinter den Talenten her waren, die Trainer, die Betreuer, die unfähigen Funktionäre und natürlich auch die Teamgefährten. Intrigen, Lügen, Heuchelei,
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