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Gemordet wird immer

Gemordet wird immer

Titel: Gemordet wird immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Korber
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der Schiebetür gekniet und um Einlass gebeten hatte. Der Sensei pflegte zu sagen, sein eigenes Alter fliehe den Schlaf. Er führte dann mit Viktor gerne ein Gespräch über nichtige Dinge, über die Wirkung von Tee, den Einsatz eines Wortes in einem Vers oder die Wirkung des Mondes auf den Hibiskus.
    Manchmal, wenn gar nichts half, ging Viktor joggen, einfach drauflos, so weit seine Kräfte reichten, um irgendwann außer Atem am Strand anzukommen und sich in den Sand fallen zu lassen. Viktor schaute aus dem Fenster und sah Fichten unter einem weißen Vollmond. Wegen dieser Nächte hatte sein Sensei ihm so kräftig zugeraten, die Rückkehr nach Hause nicht mehr aufzuschieben.
    Langsam wurde ihm bewusst, dass der Tumult, den er gehört hatte, nicht nur Teil seines Traums gewesen war. Immer noch kamen Rufe, Kreischen und lautes Poltern aus dem Treppenhaus.
    Viktor stand auf, kratzte sich den nackten Bauch und schlurfte nur mit einer Pyjamahose bekleidet auf den Flur. Die Stimmen wurden lauter. Vorsichtig öffnete er die Tür.
    Auf dem Treppenabsatz lag sein Cousin, Onkel Wolfgang beugte sich quer über seinen Bauch, und die Tante war damit beschäftigt, ihm die Arme festzuhalten. Tobias brüllte wie ein wütendes Tier und schlug mit Händen und Füßen um sich. Tante Hedwig redete ununterbrochen auf ihn ein, während sie all ihre Kraft aufbrachte, sich gegen Tobias’ kräftige Arme zu stemmen, die rücksichtslos nach ihr ausholten.
    »Es ist gut«, beschwor sie ihren Sohn. »Alles ist gut, es war nur ein Traum. Du bist jetzt wach, Tobi, du bist bei uns.«
    »Vorsicht, er beißt.« Die Warnung des Onkels kam zu spät. Viktor sah, wie Tobias seine Zähne in den Oberarm seiner Mutter grub. Sie fluchte und verlangte: »Das Handtuch, schnell.«
    Fassungslos sah Viktor zu, wie Tante Hedwig, die sanfte Tante Hedwig, Tobias ein geknotetes Handtuch in den Mund stopfte. »Ich weiß, du bist wütend, Tobi«, rief sie keuchend, um eine Gelassenheit bemüht, die sie zunehmend verließ. »Aber ich kann nicht zulassen, dass du mir oder dir selbst wehtust. Verstehst du?«
    Sein Onkel stöhnte unter einem Tritt und verlagerte das Gewicht.
    Der Tante liefen die Tränen über die Wangen, doch ihre Stimme hatte sie wieder unter Kontrolle. »Ich halte dich, bis du nicht mehr schlägst, Tobi, in Ordnung? Nicht schlagen. Nicht. Du bist wach, Tobi, wir halten dich. Es ist alles gut.«
    Viktor musste ein Geräusch gemacht haben, denn sie wandte den Kopf und blickte ihn über die Schulter an. Noch immer heftig mit ihrem um sich schlagenden Sohn ringend, rief sie Viktor zu: »Alles in Ordnung, er träumt nur manchmal schlecht. Dann braucht er ein wenig Zeit, um wieder in die Realität zu finden. Vor allem bei Vollmond.« Sie versuchte ein Lächeln und wich einem erneuten Beißversuch aus. »Ruhig, Tobi.« An Viktor gewandt, fügte sie hinzu: »Er will das gar nicht. Morgen wird es ihm furchtbar leidtun. Überlass das uns.«
    Im selben Moment traf Tobias’ knochiger Ellenbogen den Onkel mit voller Wucht an der Schläfe. Wolfgang Anders schrie auf und rutschte zwei Stufen tiefer. Er ballte die Fäuste, aber seine Frau hielt ihn mit einem Schrei zurück. Benommen schüttelte er den Kopf.
    »Überlass das uns«, wiederholte Hedwig über die Schulter gewandt. In ihren Augen war die Anstrengung zu lesen, aber auch die Scham.
    Ohne ein Wort zu verlieren, schloss Viktor die Tür. Von innen dagegengelehnt, lauschte er den langsam leiser werdenden Kampfgeräuschen. Was Tobias wohl geträumt hatte, fragte er sich. Und er dachte an den Vollmond, den er so oft über dem Pazifik hatte stehen sehen. So groß, hypnotisch, wunderschön und doch nicht im Geringsten tröstlich. Er fröstelte. Diese Alpträume mussten ein Ende nehmen. War das nicht der Grund, warum er eigentlich nach Hause gekommen war?
    Einige Tage lebte er nun schon hier und hatte doch um alles, was er eigentlich in Angriff nehmen wollte, einen großen Bogen gemacht. Viktor schaute auf die Uhr in der Küche. Viertel vor zwei. Eine ebenso gute Zeit wie jede andere auch. Er ging in das Zimmer seiner Eltern und knipste das Licht an.
    Der Schreibtisch seines Vaters war auf den ersten Blick so unspektakulär, wie er es erwartet hatte. Alles war sorgsam in Fächern geordnet, jeder Ordner akribisch beschriftet: Steuer, Versicherungen, Krankenkasse, Haus, Auto. Viktor ging gewissenhaft vor. Er blätterte alle Unterlagen durch und warf sie dann einfach auf das Bett. Fach für Fach leerte er so. Ordner

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