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Gemordet wird immer

Gemordet wird immer

Titel: Gemordet wird immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Korber
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das meinst.« Sein Onkel schnitt energisch durch das Fleisch. »In zwanzig Jahren sollte sogar jemand wie er den Text auswendig können.«
    »Nein, nein, ich meine, gezielt zitiert. Dass er die fertigen Sätze aus dem Buch benutzt, um etwas zu sagen.« Viktor sah seine Tante an. »Er hat vom Verstecken in der Uhr gesprochen, als er sich fürchtete.«
    Der Onkel schüttelte energisch den Kopf. »Hast du ihm mal zugehört? Er sagt etwas, dann behauptet er das Gegenteil davon, dann fragt er wieder danach, als wüsste er gar nichts, dann andersrum, alles ganz willkürlich. Du kannst ihm eine simpel mit Ja oder Nein zu beantwortende Frage stellen, und er wird viermal Ja und fünfmal Nein sagen und dann die Antwort von dir wissen wollen. Ich hab’s aufgegeben.«
    Die Tante schaute auf ihren Teller. »Warum sollte er das machen?«, fragte sie langsam. »Das mit dem Zitieren?«
    Viktor hob die Hände, um anzudeuten, dass er keine sichere Antwort hatte. »Vielleicht fehlen ihm die eigenen Worte«, meinte er. »Ich kannte mal einen Kerl, das war in Kalifornien bei der Traubenernte, der redete immer in Songtexten, wenn er verliebt war.«
    »Traubenernte. Songtexte. So ein Quark.« Der Onkel nahm sich Kartoffelsalat.
    »Ja, das haben die meisten Mädchen auch zu ihm gesagt, die er so von sich überzeugen wollte.« Viktor neigte den Kopf über den Teller. Dann schob er den Stuhl zurück. »Ich werde heute früh schlafen gehen«, stellte er fest. »Es war ein langer Tag.«
    Den ganzen Weg die Treppe hinauf, im Badezimmer mit der Zahnbürste im Mund und lange danach noch im Bett dachte er über diesen Tag und den Fall Bulhaupt nach. Er war sich einfach nicht sicher, was er tun sollte. Die Sache als solches schien ihm klar: Der junge Sohn, das heißt, der Stiefsohn, wie er der Akte entnommen hatte, die im Büro lag, hatte seinen Stiefvater erschossen. Vielleicht wollte er erben, genau wie die lieben Hinterbliebenen, denen er danach begegnet war, vielleicht wollte er seine Mutter beschützen. Vielleicht hatte er auch einfach nur einen schlechten Tag gehabt. In den USA hatte er jüngere Kinder als dieses mit Waffen in den Händen gesehen, und sie hatten sie benutzt. Möglicherweise war diese Entwicklung einfach nun auch in Europa angekommen. Und er live dabei, im Schrank eines Japanologen.
    Die Frage, die sich ihm wirklich stellte, war, wie er der Polizei sein Wissen mitteilen konnte, ohne sich selbst zu belasten. Ein anonymer Anruf von einer Telefonzelle? Eine E-Mail aus einem Internetcafé? Oder sollte er den Dingen ihren Lauf lassen? Die würden den Schlüssel doch sicher finden? Und die Fingerabdrücke? Eventuell lehnte er sich ganz umsonst aus dem Fenster und war am Ende der Dumme.
    Viktor konnte nicht schlafen. Er wendete sein Kopfkissen genau dreimal, hieb mit der Hand einen Keil hinein und warf sich darauf. Aber es half nichts, der Schlaf wollte nicht kommen. Unzählige Dreierrunden hatte er bereits hinter sich, als er endlich in einen unruhigen Traum versank, tiefer und tiefer, rote Stufen hinab. Schritt für Schritt ging er hinunter, auf eine Tür zu, hinter der etwas auf ihn wartete, das ihn mit wachsendem Schrecken erfüllte. Er konnte sich nicht vorstellen, was es war, und wusste es zugleich doch, wusste, dass es absolut überwältigend und entsetzlich sein würde und dass es nichts gab, was er dagegen tun konnte. Seine Knie waren weich, er spürte die Angst durch all seine Glieder fließen.
    Hinter der Tür tickte es. Es tickte und tickte, lauter, lauter. Viktor kam an die Tür und drückte die Klinke. Er wusste, er sollte es nicht tun, er sollte umkehren, doch es gab keinen anderen Weg. Die Tür ging langsam, ganz langsam auf, dann sprang sie ihm entgegen. Etwas Schwarzes, Fauchendes stürzte sich auf ihn. Schweißgebadet fuhr Viktor hoch.

15
    Es dauerte eine Weile, bis Viktor begriff, dass er wach war. Keuchend saß er in seinem Bett. Sein Hals schmerzte, was ihm verriet, dass er wohl geschrien haben musste. Oder es zumindest versucht hatte. Wie in den unzähligen Alpträumen zuvor. Der Sensei, bei dem er einige Zeit gelebt hatte, hatte ihm beigebracht, in solchen Fällen aufzustehen, sich mit kaltem Wasser zu waschen und den Atem zu kontrollieren, bis er ruhig genug war, um zu meditieren. Der Sensei hatte stets über seine Alpträume gewacht. Er hatte nachts oft noch in seinem Arbeitszimmer gesessen, bei einer Tasse Tee, und mit dem Pinsel seine Gedichte geschrieben, wenn Viktor, frisch frottiert und gekämmt, vor

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